Kapitel 10 - Zaden

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Büsche und Bäume rasten in einer Geschwindigkeit an Zaden vorbei, dass er sie nur als zusammenhängende Masse erkennen konnte. Tiefhängende Äste schlugen ihm ins Gesicht, versuchten ihn aufzuhalten und ihm die Sicht zu nehmen. Dornen blieben in seinem Fell hängen, hinterließen aber nichts als oberflächliche Kratzer auf seiner Haut. Nichtsdestotrotz brannte jeder einzelne von ihnen wie Feuer. Sie stachelten die Angst, die Panik und die Schuldgefühle in ihm nur noch weiter an und ließen ihn noch schneller und schneller werden.

Mit jedem Kratzer verbissen sich seine Zähne heftiger um die Hose und das Shirt, welche er im Maul trug. Im Notfall würden sie als Verband herhalten. Ungeachtet davon würden sie später aber auf jeden Fall Bissspüren davontragen, doch das konnte ihm in dem Moment nicht weniger egal sein.

Dieser Schmerz, jeder dieser kleinen unbedeutsamen Schmerzen, wirkten fast schon wie ein schlechter Witz, wie ein Hohn, im Vergleich zu den Höllenqualen, die Lycaon vielleicht durchleben musste.

Immer schneller trugen Zadens Pfoten ihn durch den Wald. Immer öfter blieb er abrupt stehen und drehte sich verzweifelt um seine eigene Achse. Hoffte vergebens darauf, wenigstens eine leichte Spur von Lycaons Fährte ausmachen zu können. Dann hätte er wenigstens eine vage Richtung, in die er laufen müsste. Doch nie fand er etwas.

Schon nach wenigen abgehackten Atemzügen seinerseits, stürzte er wieder los. Ohne Plan. Ohne jegliche Spur von seinem geliebten Gefährten. Dafür aber mit jeder Menge Gefühle, die sich alle gegen ihn zu richten schienen.

Da war brennender Schmerz überall und nirgends. Schreckliche Sorgen und Schuldgefühle. Endlose Hilflosigkeit, kalte Panik und das große Gefühl der Verlorenheit. Aber vor allem Angst. Riesige Angst, die alles überlagerte und unbedeutsam erschienen ließ. Da war Angst um Lycaon. Angst, davor, dass er zu spät kommen würde. Angst, dass es am Ende alles seine Schuld sein würde. Seine und ganz allein seine, weil er nicht schon früher nach Lycaon geschaut hatte.

Die Angst trieb ihn voran, ließ ihn immer schneller werden und machte ihm schon selber Angst. Angst vor seiner eigenen Angst. Was für eine verkorkste Welt das doch war.

Zaden schien, als ob die Zeit mit jedem Augenblick schneller verging, während es ihm so vorkam, als ob er durch den tiefsten Schnee watete. Als hätte er den Wind im Rücken und kam doch nicht voran. Es war zum Haare raufen. Doch er lief mit eisernem Willen weiter. Er musste ihn finden.

Mehrmals glaubte er, Lycaon in der Ferne zwischen den Bäumen zu sehen oder seinen fahlen Geruch zu riechen, doch es waren jedes Mal nur miese Streiche, die sein Unterbewusstsein ihm spielte. Jedes dieser quälenden Trugbilder steigerte seine Hoffnung erst ins Unermessliche, nur um sie im nächsten Moment wieder gnadenlos zu zerschmettern und seine Angst und Hilflosigkeit anzustacheln.

Die Sonne wanderte über den Himmel gegen Erde, die Schatten um Zaden herum wurden mit jedem Mal, wo er verzweifelt stehenblieb und nach dem Geruch von seinem Gefährten Ausschau hielt, länger. Es mussten Stunden vergangen sein, seitdem er bei Maewyn und Ronan gewesen war, um Lycaon zum Abendessen abzuholen, nachdem er ihn wortwörtlich den ganzen Tag noch nicht gesehen hatte, nur um dann zu erfahren, dass Lycaon den ganzen Tag noch nicht dort gewesen war.

Die Haut an seinen Pfoten war wund, seine Muskeln müde, schmerzten bei jeder Bewegung und verlangten nach einer Pause, die Zaden ihnen nicht geben konnte. Sein Hals und seine Lunge brannten, sein Mund war staubtrocken, doch er musste weiter. Er musste Lycaon finden. Musste ihn um jeden Preis finden.

Es wurde immer später. Mit jedem seiner Schritte schwand etwas mehr von seiner Hoffnung, Lycaon heute noch zu finden, und wandelte sich in Resignation um.

Als er dann glaubte, dass seine Beine ihn keine zehn Schritte mehr tragen könnten, ohne unter ihm zusammenzubrechen, war von seiner Hoffnung fast nichts mehr übrig. Nur noch Resignation.

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