Lycaon schloss entspannt die Augen und horcht auf seine Umgebung. Vögel zwitscherten um sie herum. In seiner Nähe mussten sich mindestens eine Handvoll Grillen verstecken und in der Ferne konnte er die anderen Mitlieder seines Rudels hören, wie sie ihrem alltäglichen Leben nachgingen. Die Luft war von der Sonne noch angenehm warm aufgewärmt und roch herb nach Moos, Gras, Gänseblümchen, Fahnen und all den anderen unzähligen Pflanzen, die in seiner Umgebung wuchsen. Unter ihren Gerüchen fand er irritierender Weise auch eine leichte Spur von Thymian. Ein Gewürz, das er noch nie an diesem Ort wahrgenommen hatte. Ganz dominant über allen anderen Gerüchen lag aber der einzigartige von Zaden.
Sie saßen nebeneinander auf der alten Bank, die hinter seinem Elternhaus stand, und genossen einfach nur den Moment. Zumindest war es das, was Lycaon tat. Er spürte die Strahlen der untergehenden Sonne auf seiner Haut. Spürte, wie sie seine Haut erwärmten, und fragte sich, wie der Sonnenuntergang wohl auf Zaden wirken musste. Er selbst konnte die Schönheit, von der alle Leute immer sprachen, zwar nicht sehen, konnte die Wärme auf seiner Haut aber allemal spüren. Und diese fühlte sich so wunderbar an, dass er sich gar nicht wirklich vorstellen konnte, wie er auf Zaden wirken musste.
Er verlagerte leicht sein Gewicht und wurde sich augenblicklich nur wieder seiner Nähe zu Zaden bewusste. Sie saßen zwar so weit voneinander entfernt, dass sie sich nicht berührten, aber auch wieder so nah, dass sie die Gegenwart des anderen eindeutig spüren konnten.
Ein Teil von Lycaon wünschte sich nichts sehnlicher, als dass er zu Zaden herüber rutschen und die Entfernung zwischen ihnen überbrücken würde, während ein anderer Teil von ihn genau wusste, dass das keine gute Idee war. Nicht, wenn er daran zurückdachte, wie ihn die kleine, unbeabsichtigte Berührung beim Reingehen schon so aus der Bahn geworfen hatte, dass er beinahe über seine eigenen Füße gestolpert wäre.
Zum Glück schien Zaden von der Berührung aber auch so abgelenkt gewesen zu sein, als dass er es bemerkt hätte. Zumindest hatte er nichts gesagt oder darauf bestanden ihn zu führen, wofür Lycaon sehr dankbar war. Das war nämlich etwas, was andere Leute gerne taten, wenn sie mal sahen, wie er stolperte oder woran hängen blieb. Er hasst es, wenn Leute, Leute, die er kaum kannte, ihn einfach anfassten und darauf bestanden, ihn irgendwo hinzuführen. Er hasste, hasste, hasste es einfach. Es löste so ziemlich das Gegenteil von dem unbeschreiblichen Gefühl von Glück und Freude sowie den magischen Funken in ihm aus, die er empfand, wenn Zaden ihn berührte. Oder er ihn sogar nur streifte.
Ein zögerliches Räuspern neben ihm holte Lycaon aus seinen Gedanken. „Ist alles okay bei dir, Lycaon?"
Er öffnete die Augen und runzelte die Stirn. „Ja, wieso fragts du?"
„Na, du warst während dem Essen so still und bist es jetzt auch wieder. Habe ich irgendetwas getan, was dich in meiner Gegenwart unwohl fühlen lässt oder ...?"
„Nein, hast du nicht ... ", setzte Lycaon zu einer Erklärung an. Es stimmte zwar, dass er während dem Essen mit seiner Familie eher geschwiegen und den Gesprächen am Tisch gelauscht hatte, doch hatte das nichts mit Zaden oder seiner Anwesenheit zu tun.
Er drehte sich in dessen Richtung um, bis ihm Funken übers Knie stoben und ihn in seiner Bewegung stoppten. Die Funken waren wortwörtlich atemberaubend, vernebelten seinen Verstand und legten alle seine Gedanken lahm. In diesem Moment, in diesem Augenblick schien alles so langsam zu geschehen. Das Rascheln der Blätter in Wind verlangsamte sich, genauso wie das Vogelgezwitscher, während das Zirpen der Grillen und die Geräusche der andern Rudelmitglieder in den Hintergrund rückten. Dafür spürte er die Funken und ihre Wärme umso deutlicher. Alles fühlte sich so richtig an.
Minute um Minute schienen so zu vergehen. Es dauerte, bis die Funken nach und nach an Intensität verloren und bis seine Gedanken schleppend wieder Fahrt aufnahmen. Noch länger dauerte es, bis sich die Hintergrundgeräusche es Waldes und des Rudels wieder normalisierten und noch einmal länger dauerte es, bis Lycaon realisierte, dass sein Bein noch immer an Zadens lehnte. Er wollte es zurückziehen, den Kontakt unterbrechen, doch eine warme Hand hinderte ihn daran.
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Let Me Trust You First
Loup-garouAufzuwachsen ohne sehen zu können, hat Lycaon gelehrt, dass er sein Vertrauen nicht einfach so leichtfertig an jeden erstbesten verschenken darf und, dass Vorsicht oft besser ist als Nachsicht. Das Gleiche gilt auch als er auf seinen Seelengefährten...