Kapitel 4 - Lycaon

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Das Feuer knisterte leise im Hintergrund, während Lycaon einen Kräuterstängel nach dem anderen in die Hand nahm, an ihnen roch und sie anschließend in die entsprechenden Körbe sortierte. Die Luft um ihn herum war beinahe unerträglich heiß, abgestanden und roch stark nach den verschiedensten Kräutern, die Maewyn gerade überm Feuer einkochte.

Aber weder die unerträgliche Hitze noch die, ihn in der Nase beißenden, Kräuter, hielten ihn davon ab, genau dort zu sein, wo er gerade war. Denn das kleine Rundzelt, in dem er zwischen all den Kräutern und der Hitze saß und welches von Maewyn und Ronan bewohnten wurde, war für ihn wie ein zweites Zuhause – war sein zweites Zuhause.

Es war sein Rückzugsort, wann immer es ihm überall sonst zu viel wurde, und er konnte immer darauf zählen, dass zumindest einer der beiden da war, ein offenes Ohr für ihn hatte und ihm half, seine oft wirren und rasenden Gedanken zu ordnen. Sie schienen immer die richtigen Worte parat zu haben und schafften, was Lycaon sonst nie allein gelang. Seine Gedanken und seine Sorgen zum Schweigen zu bringen.

Aber nicht nur dann suchte er das kleine Zelt auf. Auch sonst kam er in jeder freien Minute her, um Zeit mit den beiden zu verbringen. Er liebte es, wenn Ronan ihm Geschichten und Legenden über ihre Art erzählte, ihm aus alten Büchern vorlas oder ihm die, seit Anbeginn von Generation zu Generation weitergegeben und heute noch immer praktizierten, Ritual und Ritualtexte beibrachte. Er hatte Spaß daran, wenn Maewyn ihm ihr Wissen über alle möglichen Kräuter und ihre heilenden Wirkungen weitergab. Mochte es, wenn er den beiden bei der Vorbereitung und Herstellung der Heilmittel des Rudels helfen konnte und wusste, dass er selber etwas dazu beigetragen hatte, dass bei einem Kind der Husten oder das Fieber schneller wieder verschwand.

Vor allem in solchen Momenten, wenn er ihnen half, fühlte er sich gut. Fühlte sich besser und so, als könnte auch er etwas zur Rudelgemeinschaft beitragen. Etwas, was ihm sonst größtenteils durch seine Blindheit vorenthalten wurde, dabei klang es doch so einfach.

Etwas zur Gemeinschaft, zum Rudel, beitragen.

Doch so einfach es auch klang, für Lycaon war es so gut wie unmöglich. Durch seine Blindheit konnte er weder Schreiben noch Lesen, geschweige denn Kämpfen oder Jagen. Wie sollte er also etwas zu Gemeinschaft beitragen, dass auch wirklich was brachte?

„Reichst du mir bitte den nächsten Korb, Lycaon?", unterbrach Maewyns kratzige Stimme die geschäftige Stille, die zwischen den beiden herrscht. Sie waren alleine in dem Zelt, hatte Maewyns Gefährte Ronan sie doch erst vor einiger Stunden alleine zurückgelassen, um noch einige andere Dinge zu erledigen.

Maewyn und Ronan waren beide über beide Ohren ineinander verliebt und stellte mit ihren über neunzig Jahren die Rudelältesten dar. Trotzdem lebten sie noch zu allen Jahreszeiten in dem kleinen Zelt, das sie ihr Eigen nannten.

Lycaon hatte Maewyn mal gefragt, wieso sie nicht wie all den anderen Mitglieder des Rudels in einem richtigen Haus aus Holz lebten anstatt in diesem kleinen Zelt, welches oft zugig war und im Winter einen schlechten Job darin tat, die Kälte draußen sowie die Wärme drinnen zu halten. Maewyn hatte ihm damals nur geantwortet, dass sie ihr kleines Zelt so lieben würde, wie es war, und dass sie sich in ihm der Natur viel mehr verbunden fühlte, als wenn sie Holzbretter zwischen sich und das Grün des Waldes nageln würden. Danach hatte sie das Gespräch auf sich beruhen lassen.

Lycaon hatte ihre Argumentation zwar verstehen können, trotzdem wäre er nicht bereit, seinen Luxus von einem richtigen Haus und einem eigenen Zimmer gegen so ein Zelt einzutauschen. Da konnte er die Natur oder das Zelt von Maewyn und Ronan als sein zweites Zuhause noch so sehr lieben und vergöttern. In einem solchen Zelt wohnen wollte er dann doch nicht.

„Lycaon!"

Er schreckte bei der lauten Erwähnung seines Namens zusammen und aus seinen Gedanken auf. „Was?"

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