Kapitel 14 - Lycaon

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Lycaon vergrub seine nackten Zehen in der Erde und schloss die Augen. Ein schwacher Wind wehte um ihn herum und fuhr im durch die Haare. Die Morgenluft war kühl und frisch, aber genau das was er gerade brauchte. Aus der Ferne erklangen die Rufe von Eulen und Käuzen. Grillen zirpten im Gras und Blätter raschelten sachte im Wind. Das Rudeldorf sowie die meisten Tiere des Waldes schliefen noch.

Er hob leicht den Kopf an und begrüßte die feinen Regentropfen, die ihm entgegentrafen. Sie rieselten kaum spürbar auf seine Haut hinab und hatten eine angenehme Wirkung auf sein Mal.

Lycaon hob seine Hand und fuhr vorsichtig darüber. Die Haut um den Biss herum brannte leicht, doch hatte sie schon angefangen zu heilen.

Er ließ die Hand wieder fallen und legte den Kopf noch weiter in den Nacken, während die Ergebnisse der vorherigen Nacht durch seinen Geist schwebten.

Die Wärme, die Zadens Hände ausgestrahlt hatten, während Maewyn die Ritualtexte vorgetragen hatte. Wie sein Griff ihm Kraft gegeben hatte, die Nervosität in ihm zu überwinden und ein Zittern seiner Hände zu unterdrücken. Der Moment, in dem Zaden sein Bekenntnis gesprochen hatte, und wie er ihn dann vorsichtig an sich herangezogen hatte. Wie Zaden ihm erst fast schon ehrfurchtsvoll mit den Fingern über die Wange gefahren war, bevor er seine Hand auf Lycaons Hüfte hatte ruhen lassen. Die hauchzarten Küsse, die er ihm auf Schultern und Hals gedrückt hatte, und wie er sich immer wieder nach ihm erkundigt hatte. Wie er Zaden federleichte Küsse auf die Haut gedrückt hatte, um die richtige Stelle für sein Mal zu finden. Wie sie ab da keine Worte mehr gebraucht hatten. Instinktiv wussten, was und wann sie etwas tun mussten, war ein Gefühl, das er nie beschreiben könnte.

Er erinnerte sich flüchtig an den stechenden Schmerz des Bisses, bevor sich das Gefährtenband zwischen ihnen vervollständigte und verstärkt hatte. Den Sturm von Gefühlen durch sich hindurchrasen zu fühlen und nicht zu wissen, wo seine eigenen Emotionen endeten und Zadens anfingen, war eine Erfahrung, die er nie im Leben vergessen könnte. Wie er Zadens Gefühle gespürte hatte, als wären es seine eigene, und wusste, dass es seinem Gefährten mit seinen Gefühlen genauso ging. Wie überwältigend und stark sie gewesen waren. Wie Zaden ihn dann im Anschluss leicht geküsst hatte, bevor er ihm die Entscheidung überlassen hatte, wie weit sie gehen würden. Wie er Zaden wieder an sich herangezogen und sie den Kuss vertieft hatte. Die Seelenfunken, die förmlich in ihnen explodiert waren und sie beide atemlos zurückgelassen hatte. Wie Zaden seine Stirn an seine gelegt hatte und der unbeschreibliche Moment, als er Zaden zum ersten Mal über ihr Gefährtenband gehört hatte.

Auch jetzt konnte Lycaon das Band zu Zaden deutlich spüren. Es wäre so einfach es zu öffnen und seine Gefühle mit ihm zu teilen. Zaden seine Zuneigung und Dankbarkeit für alles bisher spüren zu lassen, doch brauchte er seinen Schlaf. Er selbst würde es bestimmt schon früh genug wieder bereuen, dass er nicht wenigstens versucht hatte, länger zu schlafen. Aber er wusste, dass er nicht könnte. Das aufgeregte und nervöse Kribbeln in seinem Bauch würde es nicht zulassen.

Er seufzte und fuhr mit den Fingern über das alte und morsche Holz der Bank. In all den Jahren hatte er unzählige Male auf ihr gesessen, hatte manchmal stundenlang seinen Gedanken nachgehangen und jetzt war es vielleicht das letzte Mal, dass er auf ihr sitzen würde. Lycaon wusste nicht, ob er je hierher zurückkommen würde. Die Reise zu Zadens Rudel stellte Gefahren dar, die es sich nicht lohnten, mehrmals zu begehen. Wenn schon würden seine Familie ihn besuchen kommen, aber anderes herum würde es wahrscheinlich nicht zustande kommen.

Lycaons Herz zog sich schmerzhaft zusammen. Er wollte seine Familie nicht zurücklassen, wollte seine Heimat nicht verlassen und gleichzeitig wollte er es doch. Er wollte endlich damit anfangen, sich zusammen mit Zaden ihr gemeinsames Leben aufzubauen, und wollte dessen Familie und Freunde kennenlernen. Er wollte den Ort kennenlernen, an dem Zaden aufgewachsen war und an dem er zu dem Mann geworden war, der er heute war.

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