Kapitel 1 - Zaden

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Wie vom Donner gerührt stand Zaden zwischen den Bäumen. Eine Hand hatte er an dem Baumstamm neben sich abgelegt, während er den Blick nicht von dem Wunder abwenden konnte, das nur wenige Meter von ihm entfernt auf dem Waldboden saß. Er wollte auf es zu rennen, in seine Arme schließen und nie mehr loslassen, doch sein Körper schien seinen eigenen Willen entwickelt zu haben. Kein Einziger seiner Muskeln wollte sich bewegen. Alle schienen sie zu Stein geworden, während Zaden lediglich seine Augen über diese außergewöhnliche Person gleiten lassen konnte.

Diese saß im Schneidersitz auf den Waldboden und hatte Zaden den Rücken zugewandt. Die Hände waren locker auf den Knien abgestützt, der Kopf leicht nach unten geneigt und die gesamte Haltung wirkte entspannt. Goldenes Haar, das oben deutlich länger geschnitten war als an den Seiten, schien in dem Licht der wenigen Sonnenstrahlen, denen es gelang, sich einen Weg durch das dichte Blätterdach zu bahnen, regelrecht zu glitzern und zu glänzen. Und auch, wenn Zaden das Gesicht der Person nur gerade so im Profil erkennen konnte, wusste er instinktiv, dass sie mehr als nur gutaussehend war. Mit einem wunderschönen Mund, einer perfekten Nase und unglaublichen Augen.

Vielleicht würde nicht jeder und jede seine Ansicht teilen, aber das war ihm egal. Denn, egal wie diese Person – sein Wunder – auch aussah, in Zadens Augen würde sie immer perfekt sein. Das wusste er einfach, auch ohne sie bisher je richtig gesehen zu haben. Ja, selbst die Kleidung, die sein Wunder trug, sah an der Person so viel besser aus als an Zaden selbst. Viel eleganter und fast schon majestätisch. Dabei ähnelte das lockere beigefarbene Leinenhemd, die etwas dunklere Hose aus dem gleichen Material und die dazu passenden Schuhe aus Leder im Großen und Ganze Zadens eigener Kleidung. Nichtsdestotrotz sah es an dieser Person – seinem Wunder – einfach so viel besser aus, dass der ganze Moment fast schon magisch und unwirklich wirkte.

Die Atmosphäre, die die Person umgab, schien schon mal zu passen, wirkte doch selbst die Luft um sie herum so, als würde sie glitzern. Wie als wären gerade erst ein paar Feen um sein Wunder herumgeflogen und hätten etwas von ihrem Feenstaub verteilt, um diesen Moment noch magischer wirken zu lassen, als er ohnehin schon war – falls das überhaupt noch möglich war.

Immerhin saß dort, nur wenige winzig kleine Schritten von Zaden entfernt, die andere Hälfte seine Seele. Die Person, mit der er sich eine Seele teilte, die er seinen Gefährten, seinen Seelengefährten, nennen durfte und die ihn in gleicherweise so ergänzen würde, wie er sie ergänzen würde. Schließlich waren sie füreinander geschaffen worden und dazu bestimmt Seite an Seite zu stehen.

Eine leichte Brise raschelte durch die Kronen der Bäume, fuhr Zaden durch das eigene kurze, dunkelbraune Haar und wehte ihm einen so unglaublichen und einzigartigen Duft in die Nase, wie er ihn noch nie gerochen hatte.

Er erinnerte ihn an den fallenden Schnee im Winter, die erblühenden Blumen im Frühling, die warme Sonne im Sommer und an die bunt verfärbten Wälder im Herbst. Er erinnerte ihn an den Geruch des Waldes, nachdem es geregnet hatte, an Moos, an Vögel, die durch die Luft glitten, und an den Wind, wie er in seinem Fell zerrte, wenn er in seiner Wolfsform Laufen und Jagen ging. Er erinnerte ihn an plätschernde Flüsse, an frischen Eintopf und ein Laib Brot, an Lagerfeuer und seine Familie.

Er erinnerte ihn an all dies und noch viele weitere Dinge und war doch nichts von alle dem. Er war einfach zu einzigartig in seiner ganzen Form, als dass es ihm je auch nur annähernd gelingen würde, sein ganzes Ausmaß mit Wörtern zu beschreiben.

Aber er wirkte auch Wunder darin, Zaden aus seiner Starre zu befreien, war doch selbst sein Körper von diesem so einzigartigen Geruch verzaubert und wollte dieser unglaublichen Duftquelle näherkommen.

Rein instinktiv trat er einen Schritt nach vorne und ließ die Hand von dem Baumstamm neben sich gleiten. Die rauen und unebenen Konturen der Rinde, über die seine Hand schrapte, nahm er dabei kaum wahr. Dazu war er viel zu fokussiert auf diesen Duft. Ein Duft, der so verlockend und außergewöhnlich war, dass man sich seiner Macht nicht widersetzen konnte. Zaden wollte mehr von ihm. Brauchte mehr von ihm. Er musste ihm einfach näherkommen. Musste diesem Duft näherkommen.

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