Kapitel 19 - Zaden

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„Hast du dir schon die Papiere angesehen, die ich dir heute Morgen auf den Platz gelegt hatte?", fragte Talon und schloss die Tür hinter sich.

Zaden ließ die Mappe, die er gerade gelesen hatte, sinken. „Du solltest eher fragen, ob ich heute schon etwas anders gemacht habe."

„Ach, komm schon. So viel war das doch auch wieder nicht."

Zaden erwiderte nichts und starrte Talon mit hochgezogenen Brauen an. Hatte er sich den Stapel, den er heute wortlos bei ihm abgelegt hatte, überhaut mal näher angeschaut?

„Was?" Talon ließ sich mit einem Schulterzucken auf dem Holzstuhl ihm gegenüber nieder und überschlug die Beine. „Du hast die Beta-Position angenommen."

„Nachdem du mir wochenlang damit in den Ohren gelegen hattest."

„Also ich finde, du machst dich prima."

„Das sagst du doch nur, damit du weiterhin jegliche Aufgaben auf mich abwälzen kannst."

„Das könnte auch wieder wahr sein", erwiderte Talon und begutachtete eingehend seine Fingernägel. „Wie geht es deinem kleinen Gefährten und wo ist der eigentlich? Sonst blockiert er doch immer die Couch da." Er deutete, ohne aufzublicken, mit den Daumen hinter sich.

„Lycaon-" wollte Zaden zu einer Erwiderung ansetzten, doch genau in dem Moment flog die Tür auf.

„Zaden!", stieß Xanthar atemlos hervor und stützte sich auf der Türklinge ab. Zaden war sofort auf den Füßen und eilte zu seinem Freund.

„Was ist passiert?", fragte er und machte Anstalten, Xanthar zu dem Sofa zu helfen. Doch der schlug seine Hände nur weg und deutete auf die Tür hinter sich.

„Lycaon ... er..."

„Ganz langsam. Was ist mit Lycaon?" Zaden versuchte ruhig zu bleiben, um Xanthars Willen, doch der Anblick, den er bot, half nicht wirklich dabei, sich keine Sorgen zu machen. Seine nassen Harre klebten ihm flach am Kopf und er sah so aus, als wäre er einmal quer durchs Rudeldorf gerannt. „Lycaon... er ... es gab einen Unfall in der Küche. Er ist einfach weggelaufen ... ich-"

Zadens Herz blieb fast stehen. Das erinnerte ihn zu sehr an einen schrecklichen Vorfall, als sie noch in Lycaons altem Rudel gewesen waren.

„Lycaon!", versuchte er es über ihr Gefährtenband, doch bekam keine Antwort. Viel mehr fühlte es sich so an, als würde sich sein Gefährte noch mehr von ihm zurückziehen. „Wo bist du?", fragte er erneut, wurde aber wieder nur von gähnender Stille und einem Stechen im Herz begrüßt.

Er konzentrierte sich wieder auf Xanthar, dem Talon mittlerweile unter die Arme gegriffen und zur Couch geholfen hatte. „Wo ist er hin?"

Xanthar sah ihn entschuldigend an. „Ich weiß es nicht wirklich. Als ich es geschafft hatte, die Küche zu verlassen, war es schon über alle Berge. Aber ich vermute, dass er in den Wald ist. In die Richtung führte zumindest seine Fährte, aber dann hat der Regen eingesetzt und alles ging verloren. Es ... es tut mir-"

Zaden hörte nicht weiter zu und stürzte aus dem Raum. Er musste Lycaon finden. Wenn er wirklich in den Wald gegangen war, konnte ihm sonst was passieren. Wilde Tiere, Abhänge, Flüsse. Lycaon kannte sich auf dem Rudelterritorium doch noch gar nicht aus.

Seine Hände zitternden als er sich durch die Menge im Rudelhaus nach draußen kämpfte. Kalter Regen schlug ihm entgegen und durchnässte seine Klamotten innerhalb von Sekunden, doch er zuckte nicht einmal mit der Wimper. Stattdessen begann er seine Kleidung von sich zu streifen und sich in seinen Wolf zu verwandeln.

„Lycaon!", rief er wieder, dringlicher, doch die Antwort blieb dieselbe. Er schnappte sich noch seine Hose, dann rannte er los. Er jagte durch die leeren Wege der Rudeldorfes. Keiner Menschenseele begegnete er. Wind zerrte ihm im Fell, blies ihm den kalten und schier immer stärker werdenden Regen entgegen. Regentropfen versuchten ihm seine Sicht zu nehmen, während seine Pfoten über dem rutschigen Erdboden glitten und in Pfützen versanken, doch er lief einfach unberührt weiter. Küche, er musste zur Rudelküche. Von dort hatte er bessere Chancen Lycaon schnell zu finden.

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