23.

2.5K 131 7
                                    


ATSUMU POV

Der Friedhof war ungefähr zehn Minuten Autofahrt von der Inarizaki entfernt, aber zu Fuß war es wie ein Labyrinth aus Straßen und Abzweigungen. Aber durch meine ständigen Besuche bei Akeno's Grab kannte ich alle Abkürzungen so gut, wie ich Volleyball spielte.
Durch den späten Berufsverkehr war die Stadt voller Menschen und ich musste aufpassen, niemanden umzurennen, bis ich nach gefühlt einer halben Ewigkeit das wohlersehnte Straßenschild sah, das zum Friedhof führte.
Die Sonne war schon fast völlig untergegangen und die hellen Laternen beleuchteten das öffentliche Gelände. An der großen Gittertür stand, dass der Friedhofswärter hier um einundzwanzig Uhr abschließt, aber die Zeit war im Moment mein geringstes Problem.
Geräuschlos ging ich zwischen den vielen Gräbern entlang, bis ich endlich mein Ziel gefunden hatte.
V/N stand wie eine Statue vor dem Grab ihres Vaters, die Hände hingen nur an der Seite und ihr Kopf war leicht geknickt.
Beim näheren Hingehen erkannte ich, dass keine Blumen oder sonstiger Grabschmuck auf dem Stein lagen und auch keine Räucherstäbchen wurden angezündet.
Wortlos stellte ich mich neben sie.

"Ich war lange nicht mehr hier.", sagte sie plötzlich, ihre Stimme etwas zittrig. Ich betrachtete sie aus dem Augenwinkel. Sie schien nicht überrascht zu sein, mich hier zu sehen, aber besonders glücklich sah sie auch nicht aus. Um ehrlich zu sein war ihr Gesicht gerade wie aus Stein.
"Ich habe mich nie getraut, hierher zu kommen.", fuhr sie fort. "Ich hatte zu viel Angst."
"Wovor?", fragte ich leise und meine Stimme klang rauer als beabsichtigt.
Sie atmete tief ein, als würde sie gleich anfangen zu weinen. "Er war kein guter Mensch.", flüsterte sie so leise, dass ich sie fast kaum verstanden hätte. Ich sah zum Grab. Akeno N/N war einer der freundlichsten Menschen, die ich kannte. Ich konnte mir nicht vorstellen, wie er kein guter Mensch gewesen sein konnte. Zwar war er von zu Hause rausgeflogen, weil er und Aiko N/N nicht aufgepasst hatten und dadurch V/N geboren wurde, aber er war stets zu allen nett und höflich, hat manchmal selbstgemachte Teigtaschen gefüllt mit roter Bohnenpaste rübergebracht und hätte alles dafür getan, dass seine Tochter ein glückliches Leben führte.
Doch dann kam der Unfall.
"Du glaubst mir jetzt wahrscheinlich nicht, aber für mich war er kein guter Mensch.", sagte sie diesmal wieder etwas lauter. "Nach außen hin schien er so, aber für mich war er immer nur der Mann, der mir meine Mutter wegnehmen wollte."
Ich drehte mich zu ihr um und konnte nichts gegen den verwunderten Ausdruck in meinem Gesicht tun. Aber V/N's Gesicht war immer noch krampfhaft dem Grab zugewandt.

"Was meinst du mit... wegnehmen?", hackte ich nach einer Weile leise nach.
"Er hat alles für uns getan. Ist arbeiten gegangen, hat im Haushalt geholfen, war immer der perfekte Ehemann. Aber... er war nie der perfekte Vater." Sie sah auf den Boden. "Er war abweisend zu mir. Aber nicht auf dieser Art, wie du jetzt vermutlich denkst, sondern... eher innerlich. Ich spürte es. Jeden Tag. Wie sehr er mich doch eigentlich verachtete."
Meine Augen weiteten sich und ein hässliches Gefühl braute in mir auf. "Hat er dich jemals...?"
"... Verletzt? Nein, hat er nie. Er hat nie Hand gegen mich erhoben. Zumindest nicht körperlich. Innerlich jedoch tat es weh, zu wissen, dass dein eigener Vater dich eigentlich nicht liebt, obwohl er es jedem nach außen hin zeigte." V/N lachte auf. "Und dann fing ich an, ihn ebenso zu verachten. Aber nicht, weil er mich verachtete, sondern weil er mir meine Mutter wegnehmen wollte. Er wollte sie auch dazu bringen, dass sie mich innerlich hasste. Mir blieb also keine andere Wahl, als ihn als den Bösen anzusehen. Sogar nach seinem Tod sorgte er noch dafür, dass sie sich von mir abwandte."
Ich erinnerte mich an die ersten Wochen nach dem schrecklichen Autounfall. Aiko war nicht mehr sie selbst gewesen damals. Sie hatte sich ständig in ihrem Zimmer verkrochen mit einer Flasche Wein oder etwas stärkerem und V/N musste in dieser Zeit praktisch bei uns leben, weil ihre Mutter nicht mehr einkaufen ging und auch nicht mehr Wäsche gewaschen hatte. Sie hatte nichts mehr getan.
Und dann, eines Tages, war V/N weg. Am Tag zuvor ist sie wieder nach Hause gegangen, um mit ihrer Mutter zu reden, aber ich glaubte damals, dass das nichts bringen würde. Dass V/N dann ganz früh am Morgen einfach so das Land verlassen würde, hätte niemand von uns geahnt.

Old Friends // (Atsumu x Reader) Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt