Verlust

37 11 3
                                    

Offenbar war sie auf der Couch eingeschlafen. Lina streckte sich und blinzelte in die Sonne. Die Rollläden waren wieder hochgefahren und der Himmel, der jetzt durch die bodentiefen Fenster sichtbar war, leuchtete in einem strahlenden Blau. Sie rappelte sich auf und sah sich um. Sämtliche Lampen des Zimmers brannten und auch sonst ließ nichts darauf schließen, dass es letzte Nacht einen so schweren Sturm gab. Zu den großen Glasscheiben schlurfend, warf sie einen Blick auf die Stadt. Die Zerstörungen der vergangenen Stunden waren deutlich sichtbar. Trümmer säumten die Straße, bei einem nahen Gebäude fehlte ein Teil des Daches und sie sah sogar ein Auto, welches verkehrt herum auf dem Gehweg lag. Menschen liefen umher und die Aufräumarbeiten setzten ein.

    „Wow, dass muss ja echt heftig gewesen sein. Ben, hast du das schon gesehen?"

Niemand antwortete ihr. Sie zuckte mit den Schultern. Vermutlich war ihr Freund ebenfalls eingeschlafen. Oder womöglich bald auch ihr Mann? Lina ließ kurz die Gedanken schweifen. Sie liebte Ben abgöttisch und war davon überzeugt, dass er ihr irgendwann einmal einen Antrag machen würde. Und sie würde auf jeden Fall mit ‚Ja' antworten. Zumindest, wenn er sich Mühe gab.

Den Blick suchend hin und her werfend, glitt sie zwischen den luxuriösen Möbeln der Suite hindurch und betrat das Schlafzimmer. Das Bett war leer. Ein mulmiges Gefühl breitete sich in Linas Bauch aus. Sie klopfte etwas energischer als beabsichtigt an die Badezimmertür:

    „Bist du da drin?"

Keine Antwort. Die Tür ließ sich problemlos öffnen und das Badezimmer war leer. Eine Gänsehaut bildete sich auf Linas Körper. Wo war Ben?

    „Ben! Ben?"

Ihre Stimme überschlug sich. Hektisch warf sie sich eine Jacke über und eilte in die Richtung der Rezeption. Normalerweise würde sie in Jogginghose und Schlafshirt niemals das Zimmer verlassen, aber sie war nervös. Beinahe schon in Panik. Im Flur traf sie auf einen jungen Mann vom Roomservice:

    „Hi, Entschuldigung, haben sie meinen Freund gesehen? Ben Tahnert? Groß, blond, deutscher Tourist?"

Ihre Stimme wurde immer schriller. Der Angesprochene, der lustlos eine ausgedehnte Wasserlache aufwischte, zuckte bloß mit den Schultern:

    „Sorry, nicht gesehen."

Lina fluchte halblaut, bedankte sich aber trotzdem und rauschte zur Rezeption:

    „Morgen. Haben sie meinen Freund gesehen? Ben Tahnert? Suite 1035?"

Das Mädchen am Empfang schaute kurz auf ein Klemmbrett:

    „Tut mir leid, unser Computersystem ist ausgefallen. Nein, ich kann hier keinen Eintrag sehen. Seit sie gestern zurückgekehrt sind, waren weder Sie noch Herr Tahnert bei uns."

Lina fing an zu zittern. Das konnte nicht sein. Wo war Ben? Die weiteren Worte des Mädchens ignorierend, kehrte sie wortlos auf ihr Zimmer zurück, warf sich auf die Couch und ließ den Tränen freien Lauf.

Es dauerte eine ganze Weile, bis der Tränenfluss versiegte. Sie musste sofort hier raus, brauchte Sauerstoff. Ohne mit jemanden ein Wort zu wechseln, stürmte Lina aus dem Hotel und zog die feuchtwarme Luft mit tiefen Zügen in ihre Lungen. Sie versuchte, die aufkommende Panikattacke zu bekämpfen. Ein paar Mal sprach sie fremde Menschen auf Ben an, die ihr sie nur verständnislos anstarrten. Sie rannte und rannte, bis sie letztendlich atemlos an einem Seeufer stand. Sie sah sich verwirrt um. Wo war sie hier? Ben würde sie hier nicht finden. Lina zog ihr Handy aus der Hosentasche und stellte fest, dass es fast leer war. Genau wie Bens, am Vorabend.

    „Verdammt. Kein Netz."

Das Netzsymbol zeigte nur ein x und schob das Gerät damit in die Nutzlosigkeit. Sie atmete ein paar Mal durch und sank in den feuchten Sand. Wie ging es jetzt weiter?

Urlaub - Was tust du, wenn du alles verlierst?Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt