Gegenspieler

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Die einsetzende Dämmerung ließ Lina aufschrecken. Wie lange saß sie hier bereits? Es mussten Stunden vergangen sein. Mühsam zog sie sich an dem Geländer hoch und sah zu den beiden Leichen hinunter. Sie waren nur undeutlich in der Tiefe zu erkennen. Leise vor sich hinfluchend wandte Lina sich ab und stapfte zu dem Streifenwagen. Er war ihre einzige Möglichkeit, dieser Hölle zu entkommen und sich endlich in Sicherheit zu bringen. Die Frage war jetzt nur, ob diese beiden Beamten bestochen wurden, um sie zu entführen, oder ob noch weitere Sicherheitskräfte in diese Vorgänge verwickelt waren. Im Halbdunkel erreichte sie den Wagen, betätigte den Türgriff und es passierte ... nichts.

    „Verfluchte Scheiße. Die Schlüssel liegen jetzt wahrscheinlich auf den Bahnschienen."

Den Wagen war also nutzlos, besonders, da sie nicht wusste, wie man ein Fahrzeug kurzschloss. Ein weiterer Punkt, bei dem Tom fehlte. Wieder bildeten sich Tränen in ihren Augenwinkeln, als das Gesicht von Bens bestem Freund in Linas Gedanken erschien. Es war ihre Schuld. In ihrer Verzweiflung hatte sie Tom angerufen und dank seiner bedingungslosen Loyalität hatte er alles gegeben, um seinen Freunden zu helfen. Wahrhaftig alles. Ihre Konzentration richtete sich auf Ben. Wie es ihm wohl ging? Viel Hoffnung bestand nicht, aber er war auch noch nicht tot. Die Hoffnungslosigkeit erst einmal abschüttelnd, schleppte sich Lina in Richtung der Straße. Vielleicht fand sie dort Hilfe.

Die Schnellstraße war vollkommen verlassen und die untergehende Sonne, ließ die Umgebung immer weiter im Schatten versinken. Es würde nicht mehr lange dauern, bis Lina in völliger Dunkelheit auf dem Teer lief. Sie war wieder in ihren Gedanken vertieft, als ein Licht sie aufschrecken ließ. Scheinwerfer. Sie waren hinter ihr und kamen näher. Nur wenige Augenblicke später, hielt ein staubiger Kombi neben ihr. Das Beifahrerfenster fuhr hinunter und gab den Blick auf ein Pärchen frei, das sie besorgt ansah. Die Frau hinter dem Lenkrad ergriff das Wort:

    „Hey, alles in Ordnung bei Ihnen?"

Lina wusste, dass sie nicht so aussah. Ihr T-Shirt war zerschnitten und die Hose an mehreren Stellen aufgerissen. Sie trug einige Verbände, war zerkratzt, voller blauer Flecken, die Haare mit Blut und Dreck verkrustet und die Augen sicher völlig verheult. Sie schüttelte mutlos den Kopf:

    „Nein, nicht wirklich."

Sorge zeichnete sich in den Gesichtern der Fremden ab:

    „Wohin müssen sie denn? Diese Strecke ist nicht gut für einen Spaziergang."

Lina erklärte ihre Richtung und die Frau auf dem Beifahrersitz deutete auf die Rückbank:

    „Steigen sie ein. Bis zum Ort können wir sie mitnehmen. Waren sie schon bei einem Arzt?"

Lina nickte wortlos und ließ sich auf die Rückbank gleiten. Überrascht starrte sie die beiden Kinder an, die etwas zur Seite gerückt waren. Eine Familie nahm einfach so eine Fremde auf einer so gottverlassenen Straße mit? Offenbar war ihr Anblick noch bemitleidenswerter, als sie dachte. Neben den fröhlich plappernden Kindern und der entspannten Fahrerin fühlte sie sich geborgen und war tatsächlich in der Lage, ein wenig ihrer Anspannung abzulegen.

Die Fahrt dauerte eine Weile und der Wagen hielt schließlich auf einem Parkplatz in der Stadt. Der Mann auf dem Beifahrersitz drehte sich zu seinem Gast um:

    „Wir sind da. Sind sie sicher, dass sie hier aussteigen wollen?"

Lina verzog die Mundwinkel. Sie konnte diesen Fremden gar nicht genug für die Hilfe danken:

     „Ja, es ist in Ordnung. Ich danke ihnen vielmals für das mitnehmen. Sie haben mir sehr geholfen."

Sie kletterte aus dem Wagen, verabschiedete sich kurz angebunden und sah den Rücklichtern nach, die in der Tiefe der Nacht verschwanden, froh, jetzt mit keinem Menschen mehr sprechen zu müssen. Lina fühlte sich so allein und zerbrechlich. Bei dem Gedanken an Ben stiegen ihr wieder die Tränen in die Augen. Zornig wischte sie sie weg. Jetzt waren erst einmal die nächsten Schritte entscheidend.

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