(Beinahe) Entkommen

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 „Haben sie eine Erklärung dafür, was sie auf militärischem Sperrgebiet zu suchen haben?"

Linas Gegenüber war ein älterer Soldat, offenbar ein Offizier, der auf einem Tablet herumtippte. Er sah bei seiner Frage nicht einmal auf, trotzdem schüttelte seine Gefangene den Kopf. Sie brauchte ihre ganze Konzentration dafür, sich nirgendwo anzustoßen. Gleich nachdem sie aufgegriffen wurde, waren die Fahrzeuge des Militärs eingetroffen und sie war zügig auf eine Rückbank gesetzt worden. Der Offizier saß neben ihr und zwei jüngere Soldaten auf den Vordersitzen. Linas Hände waren auf dem Rücken mit Handschellen gefesselt, was sie auf den harten Sitzen in eine unbequeme Position zwang. Ihr Kopfschütteln war offenbar nicht bemerkt worden:

„Ich habe sie etwas gefragt."

„Ich wusste nicht, dass es bereits Sperrgebiet ist. Mir sind keine Schilder aufgefallen."

Der Mann schnaubte verächtlich:

„Natürlich. Und ihnen ist genauso wenig aufgefallen, dass sie in einem gestohlenen Wagen unterwegs waren?"

Die Lippen fest zusammengepresst, weigerte sich Lina, auch nur ein weiteres Wort zu sagen. Der Soldat tippte schulterzuckend wieder auf seinem Tablet:

„Ist auch nicht mein Problem. Vielleicht interessiert es sie ja, dass die örtliche Polizei sie bereits zur Fahndung ausgeschrieben hat. Sie scheinen da sehr beliebt zu sein. Was aber meine Neugier geweckt hat, ist die Frage, wie sie es geschafft haben, auf die Fahndungslisten von NSA und CIA zu kommen. Sie sehen mir gar nicht wie eine Terroristin aus."

Lina vergaß ihren Vorsatz:

„Ich habe was geschafft?"

„Ach, sieh an. Sie kann ja doch reden."

Er tippte ungerührt weiter und in Lina brodelte es. Was hatte sie getan, um die Aufmerksamkeit der amerikanischen Geheimdienste auf sich zu ziehen? Sie versuchte doch nur, zu überleben. Der jüngere Soldat auf dem Beifahrersitz dreht sich um:

„Sollen wir mit ihr erst zum Lazarett fahren? Sie sieht ziemlich zerschunden aus."

Der Offizier nickte:

„Ja, aber unter Bewachung."

Sie passierten das gesicherte Tor des Stützpunktes und Lina verlor sofort die Orientierung. Der Fahrer steuerte das gepanzerte Fahrzeug durch ein Gewirr von Straßen und Zufahrten, durch zwei Kontrollpunkte, bis sie endlich vor einem niedrigen Gebäude hielten. Unsanft wurde Lina aus dem Wagen gezerrte und eine kleine Treppe hinaufgeschoben. Nur wenige Augenblicke später fand sie sich in einem Behandlungsraum wieder, dessen Tür von zwei Soldaten bewacht wurde. Eine Ärztin, ebenfalls in Uniform, untersuchte die Ruine, die einmal Linas Körper gewesen war, und schüttelte den Kopf:

„Meine Güte, da haben sie aber einiges mitgemacht. Sind sie auch beim Militär? In ihrer Akte steht nichts davon."

„Nein, ich bin Kunsthistorikerin."

Die Ärztin sah überrascht auf und hielt die Antwort offenbar für einen Scherz, bohrte aber nicht weiter nach:

„Der Beruf scheint aufregender zu sein, als ich gedacht hätte. Die meisten der Wunden sind ja bereits versorgt worden und ich kann jetzt nichts entdecken, was einer intensiveren Behandlung bedarf. Angesichts der vielen Kratzer und blauen Flecken möchte ich ihnen aber nahelegen, sich ein wenig zu schonen. Sie sind dann auch schon fertig."

Die auffallende Freundlichkeit der Ärztin gefiel Lina, ließ sie jedoch die Stirn in misstrauische Falten legen. Wusste sie nichts von der Verhaftung? Möglicherweise hielt sie auch nur zu ihr, weil sie ebenfalls eine Frau war. Die Warmherzigkeit verflog sofort, als der Offizier zurückkehrte. Augenblicklich war die Ärztin kühl und militärisch präzise:

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