Erkenntnis

35 10 5
                                    




Auch wenn der Polizist Greg warmherzig wirkte, hielt Lina sich mit jeglichem Gespräch zurück und ihre Antworten waren meist einsilbig. Zu groß war die Gefahr, sich zu verplappern und ihm einen Hinweis auf ihren Hintergrund zu liefern. Mit wachsender Sorge lauschte sie den Fragen und seinen Bemühungen, etwas Smalltalk zu betreiben. Es war schwer, so wenig wie möglich zu erwidern und dabei nicht unhöflich zu wirken. Endlich erreichten sie die Stadtgrenze von Washington und Lina atmete auf. Greg schien diesen halben Seufzer zu bemerken:

„Hey, tut mir leid, wenn ich so viel plappere. Ich bin ziemlich neugierig und versuche immer, herauszufinden, was für ein Mensch mir gegenübersteht. Ich wollte dich nicht nerven."

Lina lächelte schief:

„Ist schon in Ordnung. Mir geht nur gerade sehr viel im Kopf herum."

Das war noch nicht einmal gelogen. Wenn sie es nur schaffte, ihren Helfer loszuwerden, konnte sie sich auf ihren nächsten Schritt konzentrieren. Klar, er sah gut aus und war echt sympathisch, aber momentan stand er Lina nur im Weg. Sie stutzte. Hatte sie sich im Ernst gerade Gedanken gemacht, dass Greg gut aussah und sympathisch war? Wie kam sie auf solche Ideen? Ihr Gesicht wurde warm. Nach ein paar Sekunden bemerkte sie den Blick ihres Fahrers:

„Alles in Ordnung? Du bist ganz rot."

Lina wäre jetzt gerne in irgendeinem Loch versunken. Sie sorgte sich um Ben, der vermutlich in einem Krankenhaus im Koma lag und wollte nicht an den Kerl auf dem Fahrersitz denken. Schon gar nicht auf diese Art:

„Ähm, ja. Meinst du, wir könnten eine kurze Pause machen? Ich habe plötzlich wahnsinnigen Hunger."

Bei der Überlegung, am liebsten sofort aus dem Wagen zu fliehen, war ihr bewusst geworden, dass ihre letzte Mahlzeit schon eine ganze Weile her war. Glücklicherweise stellte Greg die Antwort nicht in Frage und steuerte einen Parkplatz an:

„Hey, ich habe keine Ahnung, was du möchtest. Hier hast du ein paar Dollar. Suche dir etwas aus. Ich warte hier auf dich."

Lina zögerte. Nach seiner ganzen Hilfe auch noch Geld von Greg anzunehmen, widerstrebte ihr:

„Danke, aber ich weiß nicht ..."

„Ja, schon klar. Ich helfe dir bereits und es ist unangenehm, noch mehr Hilfe anzunehmen. Ich kenne solche Menschen wie dich. Mach dir keinen Kopf. Es ist nicht viel und ich brauche sowieso mal eine kleine Pause vom Fahren."

Ihr knurrender Magen half ihr bei der Entscheidung:

„Na gut, ich sehe mich mal um."

„Wenn du es wieder gutmachen willst, kannst du mich ja deiner Schwester vorstellen."

Er grinste so schelmisch, dass er Lina damit zum Schmunzeln brachte. Es tat ihr weh, ihn so anzulügen, aber ihr blieb keine Wahl. Das Risiko, Greg einzuweihen, war viel zu groß. Sie verschwand ohne ein weiteres Wort im Laden und besorgte sich etwas zu essen. Bei der Rückkehr sah sie ihn genervt auf seinem Handy herumtippen:

„Alles in Ordnung?"

Er fluchte lautlos, steckte das Telefon in eine Hosentasche und sah überrascht auf Linas Hände:

„Na ja, nicht so dramatisch wie bei dir. Mein Mailprogramm spinnt nur dauernd. Manchmal habe ich das Gefühl, dass die Nachrichten zwischen den Postfächern selbstständig herumwandern. Besonders bei dienstlichen Mails kann das wirklich blöd sein. Meine Güte, was ist das denn?"

Lina zog die Augenbrauen hoch. So eigenartig war ihre Ausbeute nun auch nicht und sie hatte Appetit darauf:

„Was ist denn?"

Er deutete grinsend auf ihre Hände:

„Limettensaft, Cracker, Marshmallows und Senf?"

„Ja, und?"

Greg umrundete den Wagen und öffnete die Fahrertür:

„Bist du schwanger und hast mir nichts erzählt? Na komm, wir fahren weiter."

Ihr Herz setzte einen Schlag aus und entsetzt betrachtete sie ihren kleinen Einkauf. Das war unmöglich. Nein, das durfte jetzt auf keinen Fall sein. Als sie im Auto saß, steuerte der Polizist den Wagen wieder auf die Straße und weiter in Richtung des Viertels, wo diese Tagung stattfand. Offenbar bemerkte er Linas Fassungslosigkeit:

„Hey, sorry. Das war ein Scherz. Ich wollte dir nicht zu nahe treten."

Sie antwortete nicht. Ihre Gedanken wanderten zu vielen kleinen Dingen, die ihr nicht weiter aufgefallen waren. Die ständige Übelkeit, die Müdigkeit, die Stimmungsschwankungen. Ihr plötzliches Interesse an Greg. Nein, sie konnte jetzt auf gar keinen Fall schwanger sein. Das passte weder in diese Situation, noch in ihr ganzes Leben. Sie legte eine Hand auf ihren Bauch und wusste innerlich, warum auch immer, dass er recht hatte:

„Ist schon in Ordnung."

Greg ging nicht weiter darauf ein und so fiel kein Wort mehr, bis sie eine Straße erreichten, die förmlich nach Geld roch. Der Polizist sah sich ehrfürchtig um:

„Unglaublich. Was hier für Vermögen stecken. Weiß deine Schwester, dass du kommst?"

Lina, die immer noch versuchte, eine mögliche Schwangerschaft zu realisieren, schob sich einen Cracker mit Senf nach dem anderen in den Mund. Zwischenzeitlich auch ein paar Marshmallows mit denselbem Topping. Ein wenig erstaunt merkte sie, dass ihr das allen Ernstes schmeckte:

„Nein, aber ich denke, sie ist zuhause."

Es dauerte eine Weile, bis sie einen Parkplatz fanden, und Greg schaltete den Motor ab. Ihm schien bewusst zu sein, dass es Lina gar nicht gut ging:

„Hör mal. Sieh doch einmal nach, ob sie da ist. Ich werde hier warten. Sagt mir einfach Bescheid und wenn alles schiefläuft, dann finden wir schon ein Plätzchen für dich."

„Ja, danke. Ich danke dir für deine ganze Hilfe."

In dem Bewusstsein, dass sie auf gar keinen Fall wiederkommen würde, ließ sie Greg zurück. Völlig in Gedanken versunken machte Lina sich auf den Weg und wäre einige Zeit später um ein Haar mit einem Mann im dunklen Anzug zusammengestoßen.

„Oh, Entschuldigung."

Ihr Gegenüber reagierte kaum und bedeutete ihr nur mit einer Handbewegung, ihren Weg fortzusetzen. Mit einem Blick fiel Lina der Anstecker auf dem Revers seines Jacketts auf. Das Abzeichen des Secret Service, der Leibgarde des Präsidenten. Sie hatte ihr Ziel erreicht. Die Straße war zwischen eindrucksvollen Hausfassaden eingepfercht. Viele Menschen eilten mit unbekanntem Sinn die breiten Gehwege entlang und so weit das Auge reichte, war Polizei zu sehen. Lina begann zu zittern. Ein falsches Wort oder eine falsche Handlung und ihr ganzer Plan war vor Beginn zum Scheitern verurteilt. Sie erkannte eine Fassade wieder. Dort fand diese Tagung statt. Der Ort, an dem der Präsident seine Rede halten würde. Sie umrundete den Häuserblock und suchte Möglichkeiten, in dieses Gebäude zu kommen. Auf den ersten Blick war es unmöglich, da der Sicherheitsdienst die Zugänge streng abschirmte. Doch nach unzähligen Schritten und den erfolgreichen Bemühungen, unentdeckt zu bleiben, fand sie in einer breiten Gasse ihre Chance. Einen Lieferantenzugang, der nur von zwei Wachleuten besetzt war. Wenn sie es schaffte, für eine Ablenkung zu sorgen, hatte Lina ihre Eintrittskarte. Sie blieb verborgen an einer Hausecke und beobachtete die Wachen, während ihr Kopf einen Plan entwarf. Plötzlich legte sich eine Hand auf ihren Mund und würgte jeglichen Aufschrei ab. Der Griff war eisen. Jemand stand hinter ihr:

„Wer, zum Teufel, bist du?"

Urlaub - Was tust du, wenn du alles verlierst?Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt