Verloren

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Tränen liefen über ihr Gesicht. Wie in Trance wanderte Lina auf Tom zu und starrte ihn an. Der Anführer trat derweil kommentarlos zu dem Handy und rammte seinen  Stiefel so fest darauf, dass das Gerät zerbrach. Er grinste die kleine Frau an, die dort wie betäubt auf dem Platz stand:

    „So, eure Beweise sind jetzt auch weg. Was willst du jetzt noch machen?"

Sie war nicht in der Lage, zu antworten. Tausend Gedanken wirbelten durch ihren Kopf, die Worte klebten an ihrer Zunge, aber diese verweigerte den Dienst. Ihre Augen waren auf Tom gerichtet, der dort in seinem eigenen Blut lag. Immer größer wurde die Blutlache um seinen Körper. Konnte jemand überhaupt so viel Blut verlieren? Lina versuchte, sich irgendwelche Erinnerungen in das Gedächtnis zu rufen, die ihr sagten, wie viele Liter der roten Flüssigkeit ein Mensch in sich trug. Es gelang ihr nicht. Ihr Retter. Ihre große Hilfe. Derjenige, der alles für sie riskierte. Er war nicht mehr da. Ihre Frage richtete Lina an niemanden:

    „Warum?"

Der Boss fühlte sich offenbar trotzdem angesprochen:

    „Warum? Weil ihr mir schon die ganze Zeit auf die Nerven geht. Ich wollte nur das Gold, das war mein Auftrag. Du solltest nur ein Druckmittel für Tahnert sein, nicht mehr und nicht weniger."

Lina, die jetzt erst wieder merkte, wie schwach sie tatsächlich war, hielt sich angestrengt aufrecht:

    „Was ist mit Ben?"

    „Was soll mit ihm sein? Er wird ebenfalls dafür bezahlen, dass ihr mich so genervt habt."

Unfähig, den Blick von Tom zu lösen, schüttelte sie nur den Kopf. Ein Teil von ihr wollte zu ihrem Gegner stürmen, ihm den Schädel einschlagen und jeden Knochen brechen, doch dafür war Lina zu geschwächt. Trotzdem die Blutung sich scheinbar selbst gestoppt hatte, war zu viel der kostbaren Flüssigkeit verloren gegangen.

    „Nein."

Lina wusste nicht wie, aber sie drehte sich zu dem Anführer um und trat einen Schritt auf ihn zu. In ihr bäumte sich eine unmenschliche Kraft auf, die ihre Schwäche verdrängte. Ihr Gegenüber war sichtlich überrascht:

    „Nein?"

Sie setzte ihren Weg fort. Nicht so selbstsicher und langsamer, als sie gehofft hatte, aber stetig. Ihr Gesicht zeigte die pure Wut und ihre Hände waren zu Fäusten geballt:

    „Sie werden Ben nichts tun. Er hat ihnen auch nichts getan."

Obwohl der Boss in einer deutlich stärkeren Position war, trat er vorsichtig einen Schritt zurück. Die kleine Frau, deren Locken in alle Richtungen wild abstanden, von Blut und Dreck verkrustet, strahlte eine enorme Wut aus. Der Griff um die Pistole verstärkte sich:

    „Er hätte mir nur das Versteck zu verraten brauchen."

    „Und wenn er gar nichts davon wusste?"

Lina stockte. Einen Moment lang brauchte sie all ihre Kraft, um nicht zusammenzubrechen. Ihre Schritte wurden ein wenig wackeliger, aber sie stapfte vorwärts, jegliches Gefühl von Schwäche unterdrückend. Ihr Gegner zog sich weiter zurück:

    „Natürlich wusste er das. Niemand sonst hatte die Macht, einen Goldtransport umladen zu lassen. Jeder hätte Fragen gestellt, wenn der Befehl nicht von einem General gekommen wäre."

Die Erkenntnis traf Lina wie ein Peitschenhieb. In diesem Moment erkannte sie, was sie bisher übersehen hatten. Ben hätte niemals Gold verschwinden lassen, dafür war er viel zu sehr damit beschäftigt, die Geschichte in Ordnung zu bringen. Außerdem wäre es sinnlos, dieses Vermögen so lange geheim zu halten. Aber die Befehle für alles, was mit dem Transport zusammenhing, mussten die Unterschrift eines Generals tragen, damit sie nicht hinterfragt wurden. Sie war sich jetzt sicher, wer der Drahtzieher war. Mehr zu sich selbst murmelte sie:

Urlaub - Was tust du, wenn du alles verlierst?Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt