Der Mann im Hintergrund

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Ihr Übelkeitsausbruch erwies sich als Glücksfall, wie Lina später von Greg erfuhr. Gerade als sie ihre volle Aufmerksamkeit dem Abfalleimer widmete, betrat der Präsident mit seiner Leibgarde den Flur. Im ersten Moment vermutete der Secret Service offenkundig einen Angriff und machte Anstalten, das Staatsoberhaupt in Sicherheit zu bringen, doch Gregs Zwischenruf ließ sie zögern. Nach dem Hinweis, dass sie schwanger sei, ignorierte der Präsident den Rat seines Sicherheitschefs und widmete sich der jungen Frau, die dort auf dem Flur so litt.

Halb in Schockstarre stammelte die vermeintliche Terroristin ihre Geschichte, die durch das Gestottere an Glaubwürdigkeit gewann. Offenbar ließ sich der Präsident überzeugen, sich in Ruhe mit ihr zu unterhalten, denn er veranlasste, dass sie vom Secret Service in ein Hotelzimmer gebracht und geschützt wurde. Greg, der die Erlaubnis erhielt, bei ihr zu bleiben, nahm auf dem Sofa platz, während Lina sich erst einmal eine ausgiebige Dusche gönnte. Ein wenig erholt legte sie neue Verbände an und schlüpfte, wenn auch etwas widerwillig, wieder in die lädierten Klamotten. Nicht unbedingt das Outfit, mit dem man dem mächtigsten Mann der Welt gegenübertrat. Der Polizist auf der Couch grinste sie bei ihrer Rückkehr aus dem Bad an:

„Na, einmal das komplette SPA-Programm?"

„Dafür reicht es hier nicht. Momentan brauche ich wohl einen ganzen Urlaub auf einer Erholungsfarm. Aber immerhin konnte ich duschen. Gibt es schon etwas neues?"

Greg goss ihr ein großes Glas Wasser ein:

„Hier, trink unbedingt etwas. Dir fehlt es so ziemlich an allem. Wir sollen uns melden, wenn du dich etwas erholt hast und dann wirst du vom Secret Service ins weiße Haus gefahren."

„Wieso nur ich?"

„Ich habe damit nichts zu tun. Ich muss erstmal meiner Familie erklären, wo ich abgeblieben bin und mein Chef will sicher auch eine Erklärung, warum ich meinen Dienstausweis im Urlaub benutzt habe. Inbesondere, um den Sicherheitsring des Präsidenten zu durchbrechen."

So kam das überhaupt nicht in Frage. Greg hatte alles für Lina aufs Spiel gesetzt und nur Nachteile dadurch. Sie öffnete die Tür zum Flur, auf dem ein Agent im dunklen Anzug auf sie wartete:

„Ma'am."

„Sie sollen mich ins Weiße Haus fahren?"

„Ja, Ma'am."

„Ich möchte bitte, dass Officer Landry mich begleitet. Er hat bisher Kopf und Kragen für mich riskiert und hat es verdient, dabei zu sein."

„Ich werde nachfragen. Warten sie bitte in ihrem Zimmer."

Ein wenig erleichtert wanderte Lina zu dem Fenster und ließ ihren Blick über Washington streifen. Diese ganze Situation war schwer zu begreifen. Es sollte ein schlichter, schöner Urlaub mit Ben werden. Unkompliziert. Nur erholen. Einmal abgesehen von dem Vortrag, den er Lina verschwiegen hatte. Ein wenig hatte sie auch darauf spekuliert, ob er ihr auf dieser Reise endlich diese eine, berühmte Frage stellen würde. Zeit wurde es ja langsam mal. Dann war alles anders gekommen und jetzt saß sie hier und würde bald den Präsidenten der Vereinigten Staaten treffen und versuchen herauszufinden, warum sie als Terroristin gesucht wurde. Diese Anschuldigung war vermutlich auch der Grund dafür, dass sie so streng bewacht wurde. Es klopfte an der Zimmertür und dieses Mal öffnete Greg die Tür:

„Ja, bitte?"

„Officer Landry, sie können uns begleiten. Bitte lassen sie uns gleich starten. Der Präsident wartet auf sie."

Nun ging alles sehr schnell. Unter der Bewachung von insgesamt sechs Agenten wurden Lina und Greg zu einem Wagen gebracht, der vor der Lobby des Hotels bereitstand. Auf dem Weg dorthin musterten viele Menschen die junge Frau, die in der Mitte der Beamten lief, was ihr fürchterlich unangenehm war. Sie kam sich wie eine Schwerverbrecherin vor. Glücklicherweise waren zumindest die Scheiben des Wagens getönt und schirmten sie vor sensationssüchtigen Augen ab. Lina interessierte sich aber nur wenig für ihre Umgebung. Sie überlegte, wie sie dem Präsidenten im Detail ihre Geschichte erklären würde. Erst ein Stoß von Greg ließ sie aufschrecken. Sie sah sie aus dem Fenster und musterte mit ehrfürchtigem Blick die mächtigen Säulen, die den Eingang zum Weißen Haus säumten. Die Wagentür wurde von einem Agenten geöffnet:

„Ma'am, der Präsident wartet auf sie."

Mit zitternden Beinen verließ sie das schwere Fahrzeug und griff nach Gregs Hand:

„Mein Gott."

Sie wurden in eine Eingangshalle geführt, die äußerst edel eingerichtet war. Granit und Marmor überwog das Erscheinungsbild. An den Wänden standen mehrere Möbelstücke aus dunklem, edlen Holz, aber dominiert wurde die Halle von einem riesigen Gemälde George Washingtons. Sich fasziniert umsehend versuchte Lina, sich vorzustellen, was für wichtige Persönlichkeiten der Weltgeschichte hier bereits durchspaziert sind. Siedendheiß fiel ihr ein, dass selbst Ben bei seinem Abenteuer hier Abraham Lincoln getroffen hat. Ein älterer Herr trat auf die beiden Besucher zu und gab ihnen die Hand:

„Willkommen. Ich bin Sam Lloyd, aus dem Sicherheitsstab des Präsidenten. Sie werden bereits im Oval Office erwartet. Bitte entschuldigen sie, dass wir sie in jedem Fall durchsuchen müssen. Weiter werden Agenten bei ihrer Besprechung anwesend sein und sie müssen einigen Abstand zum Präsidenten halten. Sind sie mit diesen Bedingungen einverstanden?"

Lina nickte nur und ließ die Durchsuchung über sich ergehen. Auf dem Weg zu einem der berühmtesten Büros der Welt, entspannte sie ein wenig. Sie war in Sicherheit. Doch da stellte sich plötzlich ein Mann der Gruppe in den Weg:

„Agent, ich möchte ein paar kurze Worte mit der jungen Dame wechseln."

Der Angesprochene und seine Kollegen zogen sich sofort in einen respektvollen Abstand zurück. Der Fremde zog Lina ein Stück beiseite:

„Weshalb sind sie hier?"

„Ich will wissen, warum Jagd auf mich gemacht wird. Das Militär ist involviert und diverse Geheimdienste. Ich werde als Terroristin gesucht. Der Kopf hinter alledem muss sehr weit oben sitzen und ich hoffe, dass der Präsident mir helfen kann."

Ahnungslos, wer ihr Gegenüber war, entzog sich Lina seinen zupackenden Händen. Seit diesem Urlaub reagierte sie reichlich ungnädig auf ungewollte Berührungen:

„Fassen sie mich nicht an!"

Sein Gesicht war wutverzerrt. Seine Stimme leise und zischend:

„Sie halten den Mund. Sie wagen es nicht, dem Präsidenten irgendetwas mitzuteilen. Widersetzen sie sich dieser Anweisung, schaffen sie es nicht einmal lebend aus diesem Gebäude!"

Er wandte sich ab und verließ den Flur so schnell, wie er aufgetaucht war. Lina zitterte vor Angst. Sie hatte den Kopf gefunden und der hatte ihr deutlich gezeigt, dass hier keine Hilfe zu erwarten war. Greg, der bei den Agenten geblieben stand, trat wieder zu ihr:

„Hey, alles in Ordnung?"

„Ich habe des Drahtzieher gefunden und der hat mir gerade klargemacht, dass ich so gut wie tot bin."

„Was? Der Verteidigungsminister?"

Urlaub - Was tust du, wenn du alles verlierst?Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt