Schusswunden

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„Ernsthaft?"

Lina kochte vor Wut:

„So viele Richtungen, in die du hättest schießen können und du schießt ausgerechnet auf mich? Ist das für dich hier so eine Art Actionfilm, bei dem die Heldin möglichst oft verletzt werden muss, damit auch sichtbar wird, wie dramatisch das Ganze ist?"

Ein Blick auf ihr Bein bestätigte, was sie bereits ahnte. Die Kugel hatte ihre Wade gestreift und einen brennenden, blutigen Striemen hinterlassen. Lina betrachtete die Wunde und um ein Haar hätte sie aufgelacht. Ihre Wut verflog schnell wieder:

„Wirklich jetzt. Reicht dir das noch nicht an Drama? Die Stelle liegt genau auf dem Saum meiner Lieblingsstiefel. Folglich kann ich meinen Lieblingsrock auch nicht mehr tragen und Ben mag den Anblick. Das verzeiht er dir nie!"

Tom stammelte eine Entschuldigung, aber Lina winkte, ein wenig schmunzelnd, ab. Ihr waren Antworten wichtiger und Tom legte sich so für sie ins Zeug, dass sie ihm das verzeihen würde:

„Naja, was solls. Ich bin so auf Schmerzmitteln, ich habe es kaum gespürt. Krieg lieber bei dem Kerl raus, was das für Typen sind."

Tom wandte sich dem Gefesselten zu und setzte zu just zu einer Frage an, da erklang eine lauter werdende, aufgeregte Stimme:

„Dort hinten. Es ist mindestens ein Schuss gefallen."

Die Polizei. Lina wurde erst jetzt bewusst, dass der Lärm, den sie hier verursachten, nicht unbemerkt geblieben war. Sie rappelte sich mühsam auf:

„Tom, wir müssen sofort verschwinden."

Er nickte nur und wandte sich noch einmal dem Fremden zu:

„Wer seid ihr?"

„Wer wir sind, ist unerheblich. Unser Auftraggeber sollte euch mehr interessieren. Viel Glück bei der Suche, er hat euch bereits im Fadenkreuz."

Lina zerrte ungeduldig an Tom. Ein Verhör durch die Polizei war das Letzte, was sie jetzt gebrauchen konnten. Sie huschten zwischen die Regale und schlichen sich an den Uniformierten vorbei, die in den Raum stürmten. Kurz vor dem Eingang stoppten sie. Mehrere Beamte sperrten den Lesesaal ab und ließen ihre Blicke argwöhnisch durch die Regale schweifen. Glücklicherweise dauerte es nur wenige Augenblicke, bis eine Gruppe von Besuchern aus dem Raum geführt wurde, die sich nah an dem Versteck von Lina und Tom vorbeibewegten. Die beiden Flüchtigen nutzten den Moment und glitten in die Menge. Unerkannt, aber mit Schweißperlen auf der Stirn, verließen sie die Bibliothek, eilten zu Toms Wagen und waren verschwunden, bevor ihnen jemand eine Frage stellen konnte. Erleichterung breitete sich in dem Fahrzeug aus, als Tom die Auffahrt zum Highway ansteuerte. Einen Augenblick der Ruhe. Einmal durchatmen. Lina betrachtete den Fahrer, Bens besten Freund. Sofern Tom aufgewühlt war, ließ er sich nichts anmerken. Einzig die etwas schmaleren Lippen zeigten, dass er enorm angespannt war. Ein wenig fehlte ihr der naive, stets alberne Tom. Sie streckte sich, so weit es ihre Bewegungsfreiheit zuließ, und gähnte:

„Was für ein Tag."

Tom reagierte kaum, offenbar tief in Gedanken versunken. Lina beschloss, ihn erst einmal in Ruhe zu lassen. Ihr Kopf führte sie wieder zu Ben. Sie durchblickte im Moment noch nicht vollständig, was er mit diesem Goldtransport zu schaffen hatte. Ihre Gegner schienen über mehr Daten zu verfügen, aber immerhin hatte ihr Begleiter Informationen gefunden, die sie ein Stück weiterbrachten und zu deren Ursprungsort er fuhr. Letztendlich war ihr der Schatz recht egal. Selbstverständlich war ein solches Vermögen verführerisch, aber im Grunde wertlos, wenn es sie Ben kostete. Ungeachtet dessen war das Gold, sofern es überhaupt existierte, mit Sicherheit längst gefunden und weggebracht worden. Eine unbedachte Bewegung schickte eine neue Schmerzwelle durch ihren Körper und ließ Lina zusammenzucken. Sie nahm zwei weitere Tabletten und sah, dass die Pillendose beinahe leer war:

Urlaub - Was tust du, wenn du alles verlierst?Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt