Schock

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„Runter!"

Toms Tonfall ließ keine Antwort zu. Lina öffnete den Sicherheitsgurt und rutschte in den Fußraum:

    „Was ist denn los?"

    „Ein Streifenwagen. Du sagtest ja, wir können niemanden vertrauen. Und ich befürchte, nach der Geschichte im Krankenhaus haben die möglicherweise Interesse an dir."

Die Wahrscheinlichkeit, dass Tom damit Recht hatte, war durchaus hoch. Auch wenn der Polizist falsch war, die Schusswunde war es nicht. Solche Vorfälle wurden immer von den Behörden untersucht und Linas Entscheidung, zu verschwinden, verringerte nicht unbedingt das Interesse an diesem Fall. Zusammengekauert in der Enge des Autos nahmen die Schmerzen zu. Die Wunde in ihrer Seite zog und zerrte. Fast so, als würde sie jeden Moment nochmals aufreißen. Lina biss die Zähne zusammen, taste mit einer Hand über die Verbände und war froh, kein neues Blut zu finden:

    „Darf ich wieder hochkommen?"

Ihre Position war nicht unbedingt angenehm und ließ jede weitere Sekunde zur Qual werden. Tom schüttelte den Kopf:

    „Noch nicht. Hier sind gerade sehr viele Leute."

Einige Augenblicke später atmete Lina erleichtert auf. Zurück auf dem Beifahrersitz streckte sie sich, nachdem Tom das OK gegeben hatte:

    „Mach das bitte nicht nochmal mit mir."

    „Hey, ich werde hier nicht von bösen Jungs und der Polizei gejagt."

Dieser Satz klang so lächerlich, dass beide kurz auflachten. Dieser Moment der Fröhlichkeit heilt jedoch nicht lange an und Lina verstummte schnell wieder:  

„Tom, ich mache mir große Sorgen um Ben. Was ist, wenn sie ihm etwas antun?"

    „Ganz ruhig. Sie wollen doch etwas von ihm und so lange du nicht da bist, haben sie kein Druckmittel. Ihm wird nichts passieren. Wir werden diese Geschichte sicher alle gesund und munter überstehen, da bin ich sicher."

Das war nicht wirklich überzeugend, nahm aber ein klein wenig der Anspannung. Die Situation war so schon schwer genug und Tom riskierte eine Menge, um ihr zu helfen. Lina war hin und hergerissen. Seine Anwesenheit half zwar enorm und sie war glücklich darüber, aber es tat ihr leid, ihn so tief in diese Sache mit hineinzuziehen. Sie ließ ihre Gedanken schweifen. Was versuchten sie eigentlich, mit den Nachforschungen über diesen mysteriösen Schatz zu erreichen? Es war ihre Aufgabe,  Ben zu retten und nicht, sich einen Haufen Gold unter den Nagel reißen. Sie sprach Tom darauf an, der nachdenklich abwinkte:

    „So ganz genau weiß ich das auch noch nicht. Ich hoffe ein wenig, dass diese Typen uns wenigstens zuhören, wenn wir Informationen haben, die sie brauchen. Vielleicht bekommen wir Ben dann da irgendwie raus."

Lina wäre ein richtiger Plan lieber gewesen. Sie plante immer alles. Es ging ihr gut, wenn es einen Plan gab. Unbewusst griff sie wieder zu der kleinen Dose mit den Schmerztabletten, zog die Hand aber langsam zurück. Die letzten Tabletten hatte sie erst vor kurzem genommen und die Medikamente brauchten eine Weile, bis sie wirkten. Es dauerte nicht lange, bis Tom den Wagen auf den Parkplatz einer Bibliothek lenkte und sie ihre Suche in Angriff nahmen. Tom holte unzählige dicke Bücher und Lina begann, darin zu blättern. Er hatte darauf bestanden, dass sie, wenn sie schon die ärztliche Behandlung verweigerte, wenigstens so wenig wie möglich herumlief. Der Geruch von altem Papier und Staub ließ ihre Nase kitzeln. Die Bücher waren schon lange nicht mehr gelesen worden. Seite um Seite blätterten sie durch Protokolle, Berichte und Briefe, die in diesen Bänden festgehalten waren. Tom klappte einen dicken Wälzer zu und schüttelte den Kopf:

Urlaub - Was tust du, wenn du alles verlierst?Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt