Diebstähle

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Linas Herz klopfte und ihre Gedanken rasten. Übelkeit stieg wieder in ihr auf. Was nun? Viele der Soldaten verließen ihre Fahrzeuge und kontrollierten gegenseitig ihre Papiere. Sie kamen näher.

„Wenn ich jetzt einfach losfahre, habe ich die alle am Arsch. Das funktioniert nicht."

Sie hatte so manches überstanden und war aus so vielen Situationen entkommen, nur um jetzt an einer simplen Kontrolle zu scheitern?

Nein, ich werde hier nicht aufgeben. Das schulde ich Ben!

Mit um das Lenkrad verkrampften Händen starrte Lina auf einen der Männer, die ihrem Wagen jetzt am nächsten waren. Sie musste sich schnell entscheiden. Wenn sie nun ... doch zu einem weiteren Gedanken kam es nicht mehr. Jemand klopfte an dem Fenster der Beifahrerseite:

„Aufmachen!"

Verflucht. Hinter ihr waren ja ebenfalls Fahrzeuge und offenbar waren die Soldaten auf der anderen Seite schneller unterwegs. Das Klopfen wurde energischer wiederholt. Jetzt musste eine Entscheidung her.

„Sofort aussteigen!"

Ok, es blieb keine Wahl. Lina griff nach dem Zündschlüssel. Der Motor heulte auf und der Mann auf der Beifahrerseite stolperte zurück, als das schwere Fahrzeug einen Satz machte. Die Fahrerin riss das Lenkrad herum, streifte mit einem lauten Krachen den Wagen vor ihr und gab Gas, sobald sie freie Bahn hatte. Lina keuchte angestrengt und zog den Kopf ein, als sie die Kolonne passierte. Das war ihr alles zu hektisch. Waffen wurden abgefeuert und die Kugeln prasselten gegen die Panzerung ihres Gefährts. Glücklicherweise blieben die Reifen verschont und so war sie in der Lage, mit hoher Geschwindigkeit ihre Gegner hinter sich zu lassen.

„Verflucht, das lief gar nicht wie geplant."

Ohne eine zündende Idee zu haben, steuerte Lina den Wagen die Straße entlang und überlegte, welche Möglichkeiten jetzt bestanden. Der erste Schritt hieß eindeutig, das Fahrzeug und die Uniform loszuwerden. Da sie auf gar keinen Fall in diesem orangenen Overall herumlaufen konnte, durch den man ihre zerrissene Kleidung ersetzt hatte, bot es sich an, einen Laden für Bekleidung zu finden. Zumindest, sobald sie ihre Jäger losgeworden war. Im Rückspiegel tauchten bereits die ersten Fahrzeuge auf, die die Verfolgung aufgenommen hatten. Erleichtert erkannte Lina, dass sie sich einer Stadt näherte. Schnell war sie zwischen den Häusern und rauschte bei Rot über die Kreuzung. Ohrenbetäubendes Krachen erfüllte den Wagen, als sie mit dem Querverkehr zusammenstieß und den fremden Pick-up in die Ampel schob. Hektisch legte sie den Rückwärtsgang ein, setzte ein paar Meter zurück und krachte erneut in den Pick-up, der nun den Ampelmast umriss. Das Geräusch von reißenden Kabeln ertönte und ein Teil der Ampelanlage stürzte auf die Kreuzung. Menschen sprangen aus ihren Autos und rannten auf die Unfallstelle zu, was Lina überhaupt nicht recht war. Sie drückte das Gaspedal durch und das schwere Militärfahrzeug schob sich über die Motorhaube ihres Unfallgegners. Funken sprühten und mit einem Scheppern lösten sich die Fahrzeuge wieder voneinander.

„Das tut mir echt leid."

Mit einem schlechten Gewissen, aber ohne sich noch einmal umzudrehen, gab Lina Gas und ließ die Kreuzung hinter sich. Mit ein wenig Glück würde die blockierte Straße ihre Verfolger so lange aufhalten, dass sie die Möglichkeit bekam, zu verschwinden. Das gepanzerte Fahrzeug war bedeutend zu auffällig, also steuerte sie die nächste Seitengasse an, sprang aus dem Wagen und ließ die Gasse so schnell hinter sich. Dass Soldaten in den USA ein hohes Ansehen besaßen, kam Lina jetzt zugute. Passanten grüßten höflich angesichts ihrer Uniform und niemand kam auf die Idee, sie aufzuhalten. Mit jedem Schritt wurde sie langsamer, da sich ihre Verletzungen wieder bemerkbar machten. Mit zusammengebissenen Zähnen ging Lina weiter. Erleichtert stieß sie die Glastür des ersten Geschäftes auf, das im Schaufenster Klamotten zeigte. Zügig nahm sie einige Sachen, die ihr passen sollten und ein paar Teile extra. In der Umkleidekabine zog sie sich um, schlüpfte wieder in die Uniform, die sich durch ihre Größe über die Kleidungsstücke ziehen ließ und verließ die Kabine, den orangefarbenen Overall ebenfalls unter die Jacke gesteckt. Die zusätzlichen Stücke hängte sie auf die nahe Kleiderstange und lächelte die Verkäuferin an:

„Hat leider nicht gepasst."

Sobald sie das Geschäft verlassen hatte, suchte sie ein ruhiges Plätzchen. Sirenen erfüllten die Straßen und Lina war klar, dass ihr nur wenig Zeit blieb, die auffälligen Militärklamotten verschwinden zu lassen. In Ermangelung einer geeigneten Möglichkeit quetschte sie sich hinter ein paar Müllcontainer, zog die Uniform aus und steckte sie, zusammen mit dem Overall, in eine der Mülltonnen. Betont lässig verließ sie die dunkle Ecke. Einen Teil ihrer blonden Locken stopfte sie in den Kragen ihrer neuen Jacke, so dass sie nicht ganz so auffielen. Sie erstarrte. Am Ende der Straße erschien ein Geländewagen der Armee und rollte an den Passanten entlang. Lina zog einen Flyer aus der Tasche, den sie in dem Geschäft eingesteckt hatte, und las darin. Das Militärfahrzeug passierte sie und bog um die nächste Ecke. Ohne ihren Erfolg lange zu genießen, folgte Lina einem Schild, welches auf die nahe Mall hinwies. Einem Einkaufszentrum.

Ein wenig erleichtert, dass sie nicht sofort erkannt wurde, sah sie sich auf dem Parkplatz des Einkaufscenters um. Auf jeden Fall brauchte sie einen Wagen, und zwar einen, dessen Verlust nicht gleich bemerkt wurde. Die Lösung offenbarte sich in Form einer Autowerkstatt. Unauffällig stellte sich Lina vor eine Informationstafel und lauschte den Gesprächen, die dort vor der Tür geführt wurden. Es dauerte einige Zeit, aber letztendlich erklangen die Sätze, die ihr Herz höher schlagen ließen. Einer der Mechaniker unterhielt sich mit einem Kunden:

„Dann machen wir die Inspektion wie abgesprochen. Wird wohl ein bis zwei Tage dauern, in Ordnung?"

Der Herr im Anzug, der eine Aktentasche aus dem Auto nahm, nickte:

„Ja, natürlich. Ich bin ein paar Tage hier. Nehmen sie die Schlüssel?"

„Nein, lassen sie sie einfach stecken. Einer meiner Kollegen stellt den Wagen gleich zur Seite. Sobald eine Hebebühne frei ist, legen wir los."

Lina atmete durch. Das war die perfekte Gelegenheit. Der Anzugträger entfernte sich und der Mechaniker kehrte in die Werkstatt zurück. Einen Moment lang war der Wagen unbeobachtet. Sie eilte hinüber, ließ sich auf den Fahrersitz gleiten und startete den Motor. Darauf achtend, nicht hektisch zu wirken, rollte sie über den Parkplatz und bog auf die Hauptstraße ab. Hoffentlich ging der Mechaniker davon aus, dass das Auto schon zur Seite gestellt wurde und verschaffte ihr damit die Zeit, nach Washington zu kommen. Lina hätte um ein Haar gejubelt, als sie die Schilder zur Schnellstraße entdeckte, auf denen ihr Ziel stand: Washington D.C.

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