Hilfe

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Todmüde und unter Schmerzen schleppte Lina sich Meter für Meter durch die Dunkelheit voran. In diesem Moment waren nur zwei Dinge wichtig: Verschwinden und mit Tom sprechen. Wenn sich dieser Kerl als Polizist ausgab und sie so schnell im Krankenhaus fand, verfügte er über Kontakte bei der Polizei. Das schloss ein Anhalten des nächstbesten Streifenwagens aus. Solange Lina keine weiteren Informationen hatte, musste sie davon ausgehen, dass sie niemanden trauen konnte. In der winzigen Tasche der Hose ertastete sie ein paar Münzen und sah sich sofort nach einem Telefon um.

Sie hatte Glück und brauchte weder ein öffentliches Telefon, noch das Kleingeld. An dem Punkt, an dem die schmale Gasse auf die Hauptstraße traf, entdeckte Lina einen kleinen Imbiss, dessen Besitzer in diesem Moment ein Schild an die Tür hing:

In 5 Minuten wieder da!

Er verschwand und Sekunden später drückte Lina die Tür auf und betrat den Laden, den Hinweis ignorierend. Der Geruch von altem Fett und gegrilltem Fleisch stieg ihr in die Nase. Ihr Magen knurrte. Hinter dem Tresen fand sie das Erhoffte. Ein Telefon. Sie wählte Toms Nummer, doch auch nach etlichen Freizeichen hob niemand ab. Bens bester Freund war anscheinend nicht da. Mit zitternden Fingern tippte Lina erneut auf einige Zahlen und rief ihre Mailbox an. Die Zeit lief ihr davon. Mit jeder verstrichenen Minute stieg die Gefahr, dass der Besitzer zurückkehrte. Die Telefonpin kontrollierte die Anruferin und eine Computerstimme verkündete gute Neuigkeiten. Eine Nachricht von Tom:

    „Hey Lina. Mit ein wenig Glück bekommst du diese Nachricht. Ich weiß nicht, was bei euch los ist, aber ich hoffe, das du noch lebst. Ich habe eben einen Flug gebucht und komme zu euch. Meine Anrufe bei den näheren Krankenhäusern brachten nichts und ich weiß nur, dass du nirgendwo dort liegst. Ich werde erst in deinem Hotel vorbeischauen und dann einmal an dem Platz warten, von dem du unbedingt ein Foto machen wolltest. Wenn du auf der Flucht bist, können wir uns vielleicht dort treffen. Solltest du da nicht auftauchen, werde ich anfangen, alle Krankenhäuser persönlich abzuklappern. Ich finde dich schon! Halte durch."

Nicht nur ein Stein, ein ganzes Gebirge ihr Lina vom Herzen. Einen Augenblick lang saß sie einfach nur da und konzentrierte sich auf ihre Atmung. Wenn Tom hier war, würde er ihr helfen. Das Hotel als Treffpunkt verbot sich von selbst, es wurde mit Sicherheit überwacht. Aber Lina wusste genau, welchen Platz Tom meinte. Während der Urlaubsvorbereitungen war ein kleiner Park, der für seine bunte Blumenpracht bekannt war, oft ein Thema. Diese Vielfalt hatte sie unbedingt fotografieren wollen. Er war auch gar nicht so weit weg. Nur fehlten Lina jetzt zwei wichtige Informationen. Wie spät war es? Und wie lange hatte sie im Krankenhaus gelegen? Möglicherweise suchte Tom sie bereits oder saß noch im Flugzeug. Zumindest die Frage nach der Uhrzeit ließ sich klären. Sie stand deutlich sichtbar auf dem Display des Telefons. Bald würde die Sonne aufgehen. Lina legte alle Münzen aus ihrer Tasche auf den Tresen. Wenn sie schon hier einbrach, fand sie es nur angemessen, das Telefongespräch zu bezahlen.

Auf dem Weg zum Park hielt Lina sich vorwiegend im Schatten oder in den unbeleuchteten Teilen der Gegend auf. Es war zu riskant, von jemanden gesehen zu werden. Vor allem, weil durch die knappen Klamotten ihre Verbände deutlich sichtbar waren.

Außer Atem und vor Schmerzen zitternd, erreichte sie den kleinen Park und brach fast vor Erleichterung zusammen, als sie Tom entdeckte. Der schloss sie fest in die Arme und setzte sie auf eine etwas verdeckte Parkbank:

    „Lina, was ist passiert? Du siehst ja schrecklich aus."

Gleichzeitig mit dem Glücksgefühl brach eine große Angst durch und Tränen liefen über ihr Gesicht. Zwischen den Schluchzern waren ihre Worte kaum verständlich:

    „Tom, es ist so schrecklich. Während dieses Sturms wollte Ben nur eine Taschenlampe organisieren und ist dann einfach verschwunden. Ich bin weggelaufen und habe an einem Seeufer eine Einheit der Armee gesehen. Ich wollte sie um Hilfe bitten, aber das waren Entführer. Sie wissen, was mit Ben ist. Sie haben mehrmals versucht, mich zu töten und geben sich sogar als Polizisten aus. Ich weiß nicht, was ich tun soll."

Tom, der mit den vielen Details kurz überfordert schien, nahm Lina wieder fest in den Arm:

    „Jetzt wird alles gut. Wir werden eine Lösung finden. Aber wieso bist du nicht im Krankenhaus?"

    „Die Ärztin sagte mir, dass jemand von der Polizei käme um meine Aussage aufzunehmen. Der Mann, der sich als Polizist ausgab, war einer meiner Entführer. Ich bin geflohen."

    „Mein Gott. Ihr wolltet doch nur in den Urlaub fahren. Ich bin froh, dass du noch lebst. Aber, wenn du mir die Frage erlaubst, warum bist du so, naja, aufreizend angezogen?"

    „Ich musste im Krankenhaus Kleidung stehen. Das Mädchen ist anscheinend etwas kleiner als ich."

    „An einigen Stellen auf jeden Fall."

Tom lachte kurz auf und selbst Lina erlaubte sich mit tränenerstickter Stimme ein leichtes Kichern, was ein wenig die Anspannung löste und schlug Tom mit letzter Kraft gegen die Schulter:

    „Jetzt guck gefälligst woanders hin."

Ein kleines Schmunzeln und er wurde wieder ernst:

     „Jetzt hör mal zu. Wir werden herausfinden, was mit Ben passiert ist. Aber ich denke, ich habe zumindest einen Hinweis darauf, warum etwas mit ihm passiert ist."

Lina wurde hellhörig, die Schmerzen rückten sofort in den Hintergrund. Sie war für jede Antwort dankbar, die sie einen Schritt weiterbrachte:

    „Ja?"

    „Ja. Ich hab ihm Flugzeug mal ein bisschen geforscht. Kein Kommentar zum Flugmodus, das war mir jetzt egal. Das Ben irgendwie mit den Geschehnissen im Bürgerkrieg zu tun hatte, scheint durchgesickert zu sein. Zumindest gibt es da wohl einige Gerüchte. Unter anderem, dass er Informationen über einen Goldtransport besitzt, der in dem Jahr verschwunden ist. Die Kisten sollte wohl von Soldaten aus seiner Division bewacht werden. Man munkelt, dass das verschwundene Gold heute mehrere Milliarden wert sein soll."

    „Wie bitte?"

    „Das ist eine Summe, die so manchen Menschen verleiten würde."

Ihr Mund stand offen und Lina traute ihren Ohren nicht. Ben sollte von einem Goldtransport im Wert von Milliarden von Dollar wissen? Diese Information ließ sich im ersten Moment nur schwer verdauen. Eine Weile saßen sie dort, zwischen den wunderschönen Blumen und genossen die angenehm kühle Morgenluft. Eine Bewegung veranlasste Lina, vor Schmerzen scharf die Luft einzuziehen, und Tom legte ihr eine Hand auf die Schulter. Er griff in seine Tasche und holte eine kleine Wasserflasche hervor. Froh über die Entscheidung, Schmerztabletten zu stehlen, nahm Lina gleich zwei auf einmal und hoffte, dass die Wirkung bald einsetzte. Bens bester Freund saß einfach nur bei ihr und strahlte Ruhe aus. Sie entspannte sich ein wenig und genoss den Augenblick der Stille, absolut sicher, dass das Schlimmste jetzt überstanden war. Lina ahnte nicht, wie falsch sie damit lag.

Urlaub - Was tust du, wenn du alles verlierst?Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt