Eine unheimliche Stille erfüllte die verlassene Halle. Alle Anwesenden starrten die junge Frau an, der jetzt hemmungslos die Tränen über die Wangen liefen. Lina war nicht mehr in der Lage, ihre angestauten Gefühle für sich zu behalten. In diesem Moment vermochte sie nicht zu sagen, was ihr lieber wäre. Dass der Boss seine Waffe nicht wieder gesichert und sie erschoss, oder dass sie noch eine Chance bekam, Ben zu retten. Nach einer Weile versiegte der Tränenstrom und eine unsagbare Wut kochte in ihr hoch. Sie warf Ben einen Blick zu, der wimmernd am Boden lag. Es war ihm anzusehen, dass es ihn innerlich zerriss, zuzusehen, wie Lina vermeintlich erschossen wurde. Sie blinzelte dieses Schwein an, welches sie so quälte:„Finden sie das witzig?"
Der Mann mit den Narben war offenbar nicht völlig gefühllos. Er schmunzelte:
„Naja, ein bisschen schon. Ich gebe euch diese eine Chance. Ihr habt vierundzwanzig Stunden. Wenn ihr bis dahin keine Ergebnisse liefert, wiederholen wir das Spiel und diese Waffe ist entsichert."
Er sagte das so beiläufig, als würde er über das Wetter plaudern. Ben sah ebenso geschockt wie die anderen Gefangenen aus. Er schien immer noch nicht verarbeitet zu haben, dass Lina lebte. Die versuchte jetzt krampfhaft, ein Zittern zu unterdrücken und Stärke zu zeigen, was den Boss offenbar amüsierte. Er schob seine Pistole in ein Holster und winkte einen seiner Männer heran. Die beiden unterhielten sich so leise, dass Lina sie nicht verstand. Sie sah Tom an, der schwer schluckte:
„Ich glaube, dass waren die schlimmsten Sekunden, die ich je erlebt habe."
„Die du erlebt hast? Diese Scheißwaffe war auf meinen Kopf gerichtet!"
Beide richteten ihren Blick auf Ben, der jetzt wieder von zwei Männern fortgezogen wurde. Lina war in diesem Moment zu schwach, um ihre Wut zu zeigen. Sie brauchte all ihre Kraft, um weitere Tränen zu unterdrücken, und diese ganze Situation ließ ihre Gefühle ungewohnt schnell von einem Extrem in das andere schwanken. Ihre Fesseln wurden gelöst und nur wenige Augenblicke später, stand sie mit Tom vor der Halle. Ein junger Mann, der für sein Alter einen beachtlichen Bauch vor sich herschob, drückte ihnen ein Handy und Autoschlüssel in die Hand:
„Hier. Der Boss sagt, ihr bekommt einen Wagen. Seine Nummer ist eingespeichert. Ruft ihn an, wenn ihr Ergebnisse habt."
Im ersten Moment war Lina zu überrascht, um darauf zu antworten. Tom schien ihre drängendste Frage zu erraten:
„Wir bekommen einfach so ein Handy und ein Fahrzeug? Was, wenn wir zu Polizei gehen?"
Ihr Gegenüber brach in wieherndes Gelächter aus:
„Der war gut. Fangt lieber an, euch läuft die Zeit davon und der Boss wartet nicht gerne."
Lina rief sich den falschen Polizisten im Krankenhaus in ihr Gedächtnis. Wenig überraschend war ihren Entführern bewusst, dass ein Besuch bei der Polizei sich von selbst verbot. Um Ben und auch ihr eigenes Leben zu retten, blieb ihnen nur eine Option. Sie mussten diesen verfluchten Schatz finden. Der Dicke watschelte, immer noch lachend, zurück in die Halle. In der Tür drehte er sich um:
„Denkt daran: Vierundzwanzig Stunden."
Die Tür schloss sich und Lina brach erneut in Tränen aus. Tom nahm sie in den Arm und hielt sie fest, bis der letzte Schluchzer verklungen war. Erst mit dem Brummen des Motors bemerkte sie, dass sie auf dem Beifahrersitz des Fahrzeuges saß. Ihre Gefühle waren vollkommen durcheinander und Lina fühlte sich schrecklich. Ihre Augen waren nach den Tränen so gerötet, dass es sinnvoll war, Tom fahren zu lassen. Sie sah kaum etwas. Ihr Chauffeur, der sich auf die Straße konzentrierte, versuchte offenbar, ein wenig Optimismus zu verbreiten:
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Urlaub - Was tust du, wenn du alles verlierst?
Mystery / ThrillerBen und Lina freuen sich auf ihre Urlaubsreise in die USA. Der erste Urlaub seit Ewigkeiten. Es scheint alles wunderbar zu laufen, doch vor Ort geraten sie in einen Sturm. An und für sich nicht so schlimm, wäre nicht Ben während des Sturms verschwun...