Wir bleiben die ganze Nacht auf dem Dach und reden so, wie ich noch nie mit jemandem geredet habe.
Liv erzählt mir von ihrer Kindheit und dass sie schon immer um alles kämpfen musste. Ihre Eltern haben sie früh weggegeben, weil sie zu jung waren und danach ist Liv von Pflegefamilie zu Pflegefamilie gewandert. Irgendwann ist sie abgehauen und lebt jetzt in einer WG mit ihren Kumpels. Sie erzählt es neutral, als würde es sie nicht tangieren, aber in ihren blauen Augen sehe ich, dass es sie manchmal immernoch beschäftigt. Sie tut mir leid, aber irgendwie spüre ich, dass sie es mir nicht erzählt um Mitleid zu bekommen, also verkneife ich mir die "Tut-mir-leid-das-war-bestimmt-schwer-für-dich-" Floskel. Wir hören uns einfach nur zu, ohne etwas zu bewerten.
Ich erzähle ihr, dass meine Eltern immer übervorsichtig waren und ich erst als ich volljährig wurde, mehr Freiheit bekam und daher viel an Kindheit verloren habe.
Irgendwann setzt sie die Kapuze ab und ich erkenne einen Eyebrowslit, der ihr etwas wildes, verführerisches verleiht. Ihre ganze Person hat etwas rebellisches an sich.
Wir reden über alles und nichts. Es ist eins dieser Gespräche, das nie zu enden scheint. Irgendwann erscheint die Sonne am Horizont und taucht die ganzen Häuser in Orang-goldenes Licht. Der Anblick von Liv in der aufgehenden Sonne nimmt mir den Atem.
Irgendwann merke ich, dass ich Hunger habe und wir holen uns Frühstück. Gemeinsam sitzen wir auf einer Bank und essen unsere Crossaints und beobachten währenddessen Menschen, die geschäftig zur Arbeit eilen. "Wir haben über alles geredet, aber nicht über unsere Berufe." bemerke ich und Liv lacht. "Ja, weil wir uns über wichtige Sachen unterhalten haben. Aber wenn es dich so interessiert: Ich studiere Kunst." Ich bin überrascht. Egal wie, ich kann sie mir nicht in einem Vorlesungssaal vorstellen. "Cool. Ich studiere BWL." "Ja was sonst." wieder lacht sie und sieht mich neckend an. Sie merkt nicht, dass sie grade einen Nerv erwischt hat. "Ich tue es meinen Eltern zu liebe." Murmele ich und senke den Blick. Ich tue immer das, was von mir erwartet wird. Ihre Augen suchen meine und sie wirkt wieder ernst. "Und was willst du?" Noch nie hat mich jemand das gefragt. Ich bekomme einen trockenen Mund bei der Art, wie sie mich bei der Frage anschaut. Die Spannung zwischen uns ist zum greifen nah. "Ich weiß es nicht." hauche ich. "Warum Kunst?" Wechsele ich das Thema, um wieder einen klareren Kopf zu bekommen. "Naja, ich fand es schon immer toll gesehen und gehört zu werden. So kann ich anderen Menschen zeigen, was in mir los ist und gleichzeitig ein Kunstwerk erschaffen." "Also ist Kunst die Sprache in der du dich ausdrückst?" sie sieht mich nachdenklich an. "Ja ich denke schon. Bis jetzt habe ich es nur noch nicht so gesehen. " Unsere Blicke verschmelzen miteinander und unweigerlich wandert meiner zu ihren Lippen. Sie sehen so voll und weich aus und ihr Blick fordert mich mit leicht hochgezogener Augenbraue heraus. Bevor ich etwas tun kann, steht sie auf und ich bin fast etwas enttäuscht. "Ich denke ich gehe jetzt. Ich habe noch etwas zu tun." erklärt Liv und ich nicke. Wir erheben uns. "Sehen wir uns wieder?" Frage ich voller Hoffnung. "Ich weiß nicht, Ava. Möchtest du das denn?" kribbelige Aufregung durchflutet mich. "Ja, sehr gerne." Gott Mädchen nicht so aufgeregt, oder soll sie merken, wie verzweifelt du nach Abwechslung und ihrer rebellischen Gesellschaft lechzt? Sie grinst "Dann werden wir uns auch wieder sehen." Sie dreht sich um und schlendert davon. Moment was? "Warte!" rufe ich ihr hinterher und sie dreht sich langsam um, ein spöttisches Lächeln auf den Lippen. "Wie, wenn ich deine Nummer nicht habe?" mein Herz schlägt aufgeregt, ob sie sie mir gibt? "Ich bin nie weit weg." antwortet sie und dann ist sie verschwunden.
Gott dieses Mädchen ist ein einziges Mysterium. Auch wenn wir die ganze Nacht geredet haben, weiß ich irgendwie nichts über sie.
Ich steige in die U-Bahn und ignoriere die pikierten Blicke der anderen Menschen, da ich noch die gleichen Sachen von gestern Nacht trage und wahrscheinlich Augenringe bis zum Boden habe. Die Fahr vergeht quälend langsam und ich muss mich beherrschen nicht wegzunicken. Endlich daheim angekommen, ziehe ich mich komplett aus und falle der Länge nach in mein Bett. Mit letzter Kraft ziehe ich die Decke über mich. Einzelne Fetzen des Gesprächs schwirren durch meinen Kopf und dann bin ich auch schon eingeschlafen.
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Adrenaline
RomanceAva ist eigentlich ein ganz normales Mädchen mit einem normalen Leben. Dies ändert sich aber schlagartig, als sie eines Nachts auf Liv trifft. Sie ist von Beginn an ein Rätsel, welches Ava aber unbedingt lösen möchte. Gemeinsam begeben sie sich au...