- Kapitel 1 -

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Kapitel 1 - Das Mädchen ohne Mantel

Als Nico das Haus verließ, war es bereits dunkel geworden. Es war tiefer Winter im Jahr 1937. Nico war sehr dankbar einen Mantel, Schal, Mütze und Winterstiefel zu besitzen, denn er wusste, nicht jeder hatte dieses Privileg. Heute hatte er einen langen Abend mit seinen Freunden der Hitlerjugend verbracht, war aber auch gleichzeitig froh, endlich nach Hause zu können. Zwar mochte er seine Freunde sehr, doch war er nicht immer sicher, ob die Ideologie, nach der er lebte, die richtige war.

Seine schweren Stiefel stapften durch den Schnee, sodass er sicher meterweit zu hören war. Sein Leiter der Hitlerjugend wäre enttäuscht gewesen, denn im Falle eines Kriegs wäre er schon längst tot.

Die Kälte durchfuhr seinen Körper trotz der dicken und auch wärmenden Kleidung. Nico wollte gar nicht an die Menschen denken, die obdachlos waren oder sich so etwas nicht leisten konnten.

Juden, schoss es ihm sofort in den Kopf. Sie waren weitaus ärmer dran als er und wurden im ganzen Land verfolgt.

Seine Bestimmung war es, Soldat zu werden und er machte sich schon wegen einfacher Minusgraden ins Hemd? Peinlich, würde sein Vater sagen...

Die Straße war nur schwach beleuchtet, doch das machte Nico nichts aus. Er war siebzehn Jahre alt und quasi erwachsen. Er streifte durch den Schnee der Straßen. Dieses sanfte Stapfen beruhigte ihn allmählich und das Kältegefühl verschwand augenblicklich.

Niemand war zu hören oder zu sehen. Nicht, dass es Nico auch nur erwartet hätte. Obwohl er sich schon etwas einsam vorkam.

Für eine Sekunde blieb Nico stehen. Morgen war Dienstag. Die Woche war immer so hart und lang, Nico fand nie die Zeit, um anderen Aktivitäten außer dem Nationalsozialismus und der Hitlerjugend nachzugehen.

Ganz vorne stand immer die Armee, denn bald würde seine Ausbildung zum Soldaten beginnen...

Noch immer völlig in Gedanken, sah sich Nico plötzlich um. Er hatte doch gerade etwas gehört. Ein Kratzen oder Klirren. Es hallte an den Wänden der grauen und veralteten Häuser wider. Da war er sich sicher.

Sein Gesicht verzog sich. Vielleicht war es auch einfach nur eine streunende Katze. Und wenn nicht? In diesem Viertel wohnten nicht viele Tiere. Das Geräusch kam aus dem hinteren Teil der Straße. Dem Teil, der in das Armenviertel der Stadt mündete. Was sollte Nico tun?

Die Neugierde in ihm drängte ihn zum Hingehen...

Komm Nico, was soll schon passieren, wenn du dorthin gehst und nachsiehst? Am Ende kannst du vielleicht einer Person helfen.

Doch die Vorsicht riet ihm, wegzugehen...

Du weißt nicht was da ist, vielleicht ist es ja ein Jude, und du willst doch nicht gesehen werden, wie du einem Juden hilfst, Nico?

Zwar hatte die Vorsicht in ihm Recht, doch die Neugierde überwog. Eine der positiven Sachen, die seine Mutter ihm hinterlassen hatte, bevor sie gestorben war... Also raffte sich Nico zusammen und tastete vorsichtig nach dem kleinen, grünen Klappmesser in seiner Tasche. Solange er dieses bei sich hatte, konnte er sich im Falle des Falles immerhin verteidigen. Ob das etwas bringen würde, wusste er allerdings nicht.

Langsam, und doch mit zitternden Knien bewegte sich Nico in die Richtung des Geräuschs. Was würde ihn dort erwarten? Es drang hinter den Mülltonnen hervor. Vielleicht war es doch nur eine Katze oder ein Marder. Was sollte ein Mensch bei den Mülltonnen suchen?

Nico erreichte die Mülltonnen und das Geräusch verstummte plötzlich. Fragend sah er sich um, konnte aber in den groben Umrissen der Nacht nichts erkennen.

- System gegen Liebe -Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt