- Kapitel 21 -

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Kapitel 21 - Zerbrochen

Zeitlupe. Das beschrieb den Umstand, wie Nico alles um sich herum wahrnahm, wahrscheinlich am besten. Es war unfassbar, was hier gerade vor sich ging. Vor ihren Augen war gerade ein Mensch erschossen wurden und die Leute gingen alle damit um, als wäre es ganz normal und alltäglich. Es war alltäglich, dass Menschen, die anders dachten oder einfach anders waren erschossen wurden, aber es war definitiv alles andere als normal. Grausam, verabscheuungswürdig, unmenschlich und menschenverachtend. Das traf es wohl viel eher.

Die Soldaten begannen, den reglosen Körper von Elias zu bergen und wegzuräumen. Nico hielt es nicht aus, diesen Mann dort zu sehen. Seine sonst so tiefen, geheimnisvollen Augen starr und gläsern, als wären sie nur künstlich. Die riesige Blutlache, aus der er herausgehoben wurde. Und das ganze schändliche Aussehen. Ein würdiger und humaner Tod war ihm erspart geblieben. Erst musste er vielleicht stundenlang leiden, bis ihm dieser sadistische Anführer der Truppe einen Gnadenstoß verpasst hatte. Immerhin etwas.

Ohne über das, was er da tat nachzudenken, riss sich Nico aus Mattheos mittlerweile locker sitzenden Griff los und rannte. Er musste einfach rennen. Um etwas in seinem Körper zu unterdrücken. Einen lauten Wutschrei, der doch eher der Verzweiflung galt, wie den, den er bei seinem Vater ausgestoßen hatte? Die Rückrufe seiner Freunde ignorierte er. Alles was er wollte, war weg von hier. So weit weg wie es nur ging.

„Nico?" Joela. Die hatte er fast vergessen. Sie tauchte aus dem Nichts auf und wollte ihn ebenfalls aufhalten, aber das konnte er jetzt nicht gebrauchen. „Nico! Bleib doch bitte stehen! Was ist passiert?", rief sie ihm hinterher und er drehte sich um. Sie versuchte ihn vorsichtig festzuhalten, aber Nico war viel zu stark. All die Jahre Hitlerjugend machten sich irgendwann also doch bezahlt... „Joela... Ich kann nicht. Ich komme später zu dir... Vielleicht erklärt es dir Mattheo. Wenn nicht... Ich komme dann. Versprochen!"

Er wartete nicht einmal eine Antwort seiner Freundin ab. Nico ließ sie einfach allein stehen und rannte weiter. Menschen, die ihm auf seiner Strecke begegneten, waren ihm egal. Es war ihm egal, dass ihm die heißen und salzigen Tränen der puren Verzweiflung und des Entsetzens über das Gesicht rannen und auf seine Kleidung oder in seinen Mund tropften. So konnte er die Bitterkeit wenigstens spüren und schmecken. Es kümmerte Nico auch nicht, dass ihn die Passanten verstört ansahen. Dann war er eben verrückt. Er wollte, dass es aufhörte. All dieses Menschensterben. Für nichts. Doch noch viel mehr als das wollte er endlich den Schuldigen für das Geschehene verantwortlich machen. Oder viel eher die Schuldige...

„Wo ist Larissa?", fragte Nico eindringlich und sah die kleine Elisabeth an. Sie konnte mit ihren zehn Jahren natürlich noch nicht verstehen, weshalb er hier war. Ihre großen, blauen Augen sahen unschuldig zu ihm herauf, während ihre zwei dünnen Zöpfchen aus hellblondem Haar hinter ihre Schultern fielen. „Wieso willst du das denn wissen?", erwiderte sie und legte interessiert den Kopf schief. Eigentlich mochte er sie sehr. Sie war nett, zuvorkommend und einfach das Gegenteil ihrer Schwester.

„Ich..." Was sollte er denn darauf sagen? Nico war noch immer ganz außer Atem und musste aufpassen, nichts Falsches in der Gegenwart von Larissas Familie zu sagen. Er wollte sie anschreien und ihr seine Meinung sagen. Allerdings nicht vor der gesamten Familie. Das war selbst für Larissa nicht angebracht. „Ich muss etwas mit ihr klären. Wir haben da ein... Missverständnis, weißt du?" Daraufhin zog Elisabeth ein fragendes Gesicht und sah eher skeptisch aus. Sie schüttelte entschieden den Kopf. „Nein, ich weiß nicht, was du meinst." Ihre Betonung auf dem Wort nicht war ein eindeutig und gab Nico ihre Meinung deutlich zu verstehen. 

Also atmete er tief durch und zwang sich, ruhig zu bleiben. „Also... Ich möchte Larissa nicht verdächtigen, aber ich glaube, sie hat etwas Unschönes getan. Und ich möchte mich nur vergewissern, dass sie es nicht war." Aber auch das stellte die kleine Schwester nicht zufrieden. Vielleicht, weil es eine Lüge war. Larissa hatte etwas Unschönes getan. Eine Untertreibung war es trotzdem. „Larissa würde nie etwas Unschönes tun. Das weiß ich."

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