Kapitel 24 - Abschied und Chaos
Als Nico am Tag der geplanten Flucht erwachte, fühlte er sich das erste Mal in seinem Leben frei. Er würde all das schreckliche Leben hier hinter sich lassen und aufbrechen, um gemeinsam mit Joela ein besseres Leben zu leben. Das Leben, welches er sich immer gewünscht hatte. Eines voller Sicherheit.
Doch an diesem Morgen war es auch ein wenig die Trauer, die ihn erfüllte. Sowohl seine Mutter als auch sein Vater lagen hier auf deutschem Boden begraben und es schmerzte ihn wirklich sehr, dass er sie zurücklassen musste. Denn generell konnte er nicht viel mitnehmen. Nur die wichtigsten Erinnerungen.
In seinem Kinderzimmer, welches im Vergleich zu anderen Zimmern sehr groß war, gab es nicht viel, was er mitnehmen wollte. Vorsichtig hob er sein altes Plüschtier hoch, welches er von einer Tante zu seiner Geburt geschenkt bekommen hatte. Eine Tante, die er danach niemals wieder gesehen hatte. Es war ein kleiner hellbrauner Bär, den er als Kind liebevoll Brüni genannt hatte und der ihm immer wieder Trost gespendet hatte, wenn wieder einmal alles in seinem Leben den Bach herunterlief. Fast war es eine Schande, dass er ihn so lange nicht mehr angeschaut hatte. Für seinen Rucksack schien Brüni aber zu groß zu sein. So wäre kaum oder gar kein Platz mehr für andere ebenso wichtige Sachen. So beschloss Nico seinem Lieblingsbären die letzte Ehre zu erweisen und trug ihn mit sich nach unten, denn in seinem Zimmer fand er nichts, was ihn auf seiner Reise nach Amerika wichtig erscheinen könnte.
Als allererstes stopfte Nico so viele Familienerinnerungen wie er fand, in seinen Rucksack. Es war das Bild der Hochzeit, als sie das Haus gekauft hatten, als Heinrich vom Krieg wiederkam. Und auch Bilder aus Nicos Kindheit waren dabei. Seine ersten Schritte, Bilder von ihm und seiner Mama oder seinem Papa und tatsächlich fand er auch ein Foto, auf welchem er gemeinsam mit Larissa in die Kamera lächelte. Es war ihr Schulanfang gewesen. Damals sah sie noch so unschuldig aus. Als würde sie niemals irgendwen umbringen oder Leute verraten, die nicht einmal etwas getan hatten. Allerdings konnte man sich auch in Menschen täuschen. Das hatte Nico im Laufe der letzten Wochen und Monate verstanden.
Außerdem fand er neben gewissem Bildmaterial auch die Eheringe seiner Eltern oder eine Kette, die seine Mutter einst aus Holz geschnitzt hatte. Das alles packte er auch sorgfältig ein, bis er langsam merkte, dass gar nicht mehr viel hineinging. Immerhin benutzte er nicht seinen großen Rucksack, den er sonst für die HJ oder ähnliches nahm, sondern einen etwas Kleineren, der bei seinem Vater gefunden hatte.
So musste Nico der Tatsache ins Auge blicken, dass Brüni wirklich nicht mit auf die Reise gehen konnte. Er blickte in die schwarzen, runden Knopfaugen, die ihn aus irgendeinem Grund traurig ansahen. Ja, auch ihm tat es leid, den Stoffbären nicht mitnehmen zu können, aber was sollte er tun? Und deswegen drückte er ihn fest an sich, wie er es das letzte Mal vielleicht mit elf Jahren getan hatte und fühlte sich sofort in seine Kindheit zurückversetzt. Er atmete den leicht staubigen Geruch ein. Gleichzeitig roch der Bär für ihn aber auch wie Zuhause. Das Zuhause, dass ihn siebzehn Jahre lang gehütet hatte und das er jetzt für immer verlassen würde. Es gab keine Chance auf eine baldige Wiederkehr. Diese Hoffnung hatte Nico längst aufgegeben.
Vertieft darin, mit seinem Stofftier zu kuscheln, bemerkte er nicht, dass Nikola hereinkam. Auch sie wusste davon, dass heute sein letzter Tag hier war und mehrfach hatte er ihr angeboten mitzukommen, denn ihre Familie hätte sogar noch Platz. Aber sie hatte mehrfach abgelehnt, also musste er diese Entscheidung wohl oder übel tolerieren.
Ihre sonst so hoffnungsvollen Augen waren heute mit Tränen gefüllt, als sie Nico in die Arme fiel und ihn fest an sich drückte. Es brauchte keine Worte, um zu beschreiben, was der jeweils andere gerade fühlte. In all den Jahren war Nikola wie eine zweite Mutter für ihn gewesen, so war es kaum verwunderlich, dass ihm dieser Abschied nicht leicht fiel. Und das schien auf Gegenseitigkeit zu beruhen, denn für Nikola war Nico auch wie ein zusätzlicher Sohn. Die beiden hatten ein so inniges Verhältnis zueinander, dass er eigentlich gar nicht auf ihre Entscheidung hören und sie trotzdem mitnehmen wollte. Dass das natürlich nicht ging, war ihm klar.
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- System gegen Liebe -
Historical FictionEr ist Nationalsozialist, sie Jüdin. Sie lieben sich. Irgendwie. Trotz der grausamen Geschehnissen ihres Landes. Nico weiß nicht was er tun soll... Sein Land verraten und Joela lieben oder Joela verraten, für die Ehre des Landes? Sein Leben wird au...