- Kapitel 27 -

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Kapitel 27 - Risiko

„Wer sind Sie?", fragte Joela völlig verwundert, den Blick starr auf den Fremden gerichtet, der einen unheimlich sympathischen Eindruck auf sie alle machte. Doch dass dieser Eindruck längst nicht mehr galt, wenn man Menschen vertrauen wollte, hatte Nico schon begriffen. Stattdessen versuchte auch er herauszufinden, warum er überhaupt hier war. Was wollte Mattheos Onkel denn überhaupt hier? Schließlich würde heute keine Flucht stattfinden. Jedenfalls nicht so, wie es ursprünglich geplant gewesen war. Oder war das nur ein weiterer Versuch, sie wie Idioten auflaufen zu lassen?

„Wir dürfen ihm nicht trauen, das ist Mattheos Onkel. Der ist genauso verlogen und hinter irgendeiner Ecke wartet bestimmt die nächste Einheit der SS oder der Gestapo oder von wem auch immer, um uns mitzunehmen", rutschte es Nico heraus und er zeigte mit dem Finger auf ihn. Auch wenn er wusste, dass dies nicht die höflichste Art war, sich vor Fremden zu benehmen. Tatsächlich leugnete dieser Jason nichts, wandte sich nun mit seinen verdammt grünen Augen an ihn und sah ihn an. Diese Augen waren wirklich sehr besonders. Sie hatten etwas Fragendes und Hinterfragendes zugleich an sich. Sie wirkten nicht böse. Hatten kein komisches Glitzern oder sonst irgendetwas. Sie schienen normal zu sein. Aber warum schüttelte er dem Kopf?

„Nicholas, hör mir zu", sprach der Fremde mit einer seltsam beruhigenden, unglaublich tiefen Stimme. Ob das nur gespielt war? Nico wusste mittlerweile nicht mehr, wie es möglich war, seinem Gefühl zu trauen. War es überhaupt noch möglich? Oder war es das Beste, nur noch sich selbst zu vertrauen? „Es stimmt, ich bin der Onkel deines Freundes Mattheo. Doch ich bin keinesfalls gekommen, um euch verhaften oder sogar umbringen zu lassen. Denn auch ich weiß, dass man dieser Familie... meiner Familie nicht alles glauben kann. Und das sage ich... Ich bin mit ihnen verwandt. Wie auch immer. Ich bin viel eher hier, um meine Pflicht als Freund zu erfüllen."

Joela und Nico blickten sich nun an. Ihre Augenbrauen waren leicht nach oben gezogen, als würde sie ihm das Gesagte nicht abkaufen. Wenn Nico ehrlich war, tat er das auch nicht. Es wäre  viel zu einfach, wenn es so wäre, dass er ein ganz normalgebliebener Mann war, der gern von Amerika nach Europa gesegelt kam, um sechs Kinder mit nach Hause zu nehmen. Die Wahrscheinlichkeit war sehr gering. Was war das für ein Freund? Sie alle kannten ihn nicht. Weshalb sollte er dann ein Freund sein? Er war keinesfalls ein Freund von ihnen. 

„Was für ein Freund sind Sie denn?", fragte Joela daraufhin und selten hatte Nico sie so entschlossen und auch hinterfragend, fast aufmüpfig gesehen. Sie nahm ihre Angriffsposition ein, indem sie dem fremden Mann nur fest anschaute. Manchmal konnte das auch ausreichen. Das Braun in ihren Augen hatte sich leicht verfärbt und wirkte fast so, als würde das darin lebende Reh von leicht entfachten Flammen umzingelt werden.

„Ich bin mir sicher, ihr werdet mir auch dies nicht glauben, aber ich bin ein alter Freund eures Vaters Aron, Joela." Sie hörte sich diesen Satz bis zum Schluss an und lächelte. Nico und die anderen hielten sich bei der Auseinandersetzung zurück. Es war besser, wenn das seine Freundin regelte... Sie war schließlich gerade ganz gut dabei, diesen Konflikt zu lösen.

„Richtig, ich glaube Ihnen nicht. Viele Leute in Ihrer Ecke wissen, wie unser Vater heißt. Das macht Sie aber noch lange nicht zu einer besonderen Person, der man ansatzweise vertrauen könnte.", entgegnete Joela triumphierend und stellte sich schützend vor ihre Geschwister, damit Jason keinem einzigen von ihnen zu Nahe kam.

Nun war es allerdings Jason, der zu lächeln begann.

„Eines muss ich dir lassen. Du hast seine Schlagfertigkeit geerbt, und seine Augen. So unschuldig wie ein Reh und trotzdem gefährlich wie ein Hirsch, der gerade erst erzürnt wurde."

- System gegen Liebe -Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt