- Kapitel 30 -

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Kapitel 30 - Versprechen, die man halten kann

1957. Mai. Eine Frau mit langen, schwarzen Haaren und einem hellblauen Sommerkleid hockte auf einer weißen, leicht schäbigen Bank in einem riesigen Garten hinter ihrem Haus. Überall standen riesige Bäume, die Äste voll mit grünen Blättern behangen und es gab unzählige hochgewachsene Sträucher. Der ganze Ort schien seinen eigenen Regeln zu folgen. Es gab nur die Natur. Dort wohnte sie. Joela. Mit ihren Geschwistern. Ohne Mann. Ohne Eltern.

Die dunklen Rehaugen der Frau wanderten über die Zeilen eines Blattes, welches sie gerade vor sich auf einem Buch als Unterlage liegen hatte. Ab und an machte sie sich mit einem schwarzen Kugelschreiber Notizen und ergänzte etwas. Der leichte Frühlingswind Virginias wehte um sie herum und erfrischte die Luft während der warmen Temperaturen, die der Mai mit sich brachte.

Es schien eine gesamte Ewigkeit zu dauern, in der Joela einfach nur dasaß und das Blatt Papier anstarrte, als eine weitere Person den Garten betrat. Sie sah der Frau auf der Bank zum Verwechseln ähnlich, was vermutlich daran lag, dass sie Geschwister waren. Auch wenn Leora fast dreizehn Jahre jünger war als Joela, sahen die beiden Frauen fast gleich aus.

„Jo?", rief die aufgeweckte junge Frau und eilte zur Gartenbank hin. Das war der Name, den ihr vor langer Zeit ein Junge gegeben hatte. Ein ganz bestimmter Junge, über den sie nicht gern sprach. Es war zwanzig lange Jahre her. Die Angesprochene schreckte aus ihrem Tagtraum hoch und nach einigen Minuten verließ ihr Blick das Papier und nun blickte Joela in die dunkelbraunen Augen ihrer jüngsten Schwester. „Kommst du nicht mit zum Frühlingsfest? Heute wird doch gefeiert!", rief diese, die Stimme mit Freude erfüllt.

Aber Joela war nicht in der Stimmung zu feiern. Heute war ein sehr trauriger Tag für sie, würden ihre Geschwister, ganz erfüllt von Trauer, behaupten. Doch dem war nicht so. Joela hatte den Punkt des Trauerns längst hinter sich gelassen, denn irgendwann gibt die Seele auf. Es war wichtig, die letzte Erinnerung in der Seele zu behalten, bevor sie in den Himmel davonfliegt. Leider trägt Trauer dazu bei, dass Erinnerungen den Himmel berührten und ihn schlussendlich auch durchbrachen. Vergessen gehörte zum Trauern. Schließlich wollte man die traurigen Erinnerungen, die man an bestimmte Personen hatte, einfach nur loslassen. Und somit vergessen.

Deshalb hatte Joela aufgehört zu trauern. Sie versuchte an diesem Tag an die schönsten gemeinsamen Zeiten zurückzudenken und diese vielleicht auch noch einmal vor ihrem geistigen Auge zu durchleben.

„Ich komme nicht mit, Leora", sagte Joela daher knapp, aber klar verständlich. Ihre Schwester zog ein missmutiges Gesicht. „Aber warum?", hakte sie nach. „Ich dachte du trauerst nicht? Jedenfalls sagst du das immer."

Joela seufzte leise. Das war der einzige Nachteil. Die Menschen glaubten ihr nicht. Menschen misstrauten vielen Sachen, die sie nicht auf Anhieb einordnen konnten, wobei dies oftmals auch an ihrer Unwissenheit lag. Der Unwissenheit, die sie entweder nicht bändigen konnten oder die sie dann mit wilden Spekulationen füllten, die wiederum zu Konflikten führten. Es verhielt sich wie in einem ewigen Kreislauf. Und doch wollte Joela ihrer kleinsten Schwester nicht vorenthalten, was an diesem dunklen Tag wirklich geschehen war. Leora war zu diesem Zeitpunkt viel zu klein gewesen, als dass sie sich daran noch erinnern könnte. Es war vielleicht auch besser so.

„Ich trauere nicht. Ich erinnere mich gern", flüsterte Joela und rutschte ein Stück zur Seite, sodass sich die andere neben sie auf die Bank setzen konnte. „Erinnern macht gemeinsam viel mehr Spaß", stellte die Jüngere mit einem aufmunternden Lächeln fest. „Als mein Kaninchen gestorben ist, habe ich mich danach immer mit Amon an Lani erinnert."

In sich begann Joela zu lächeln. Zwar war Leora gerade einmal Anfang zwanzig, doch hatte sie in manchen Tatsachen eine sehr kindliche Ansicht. Natürlich hatte sie sich mit Amon erinnert. Er sagte so gut wie nie etwas. Somit stellte er in diesem Falle eine angenehme Gesellschaft dar. Das konnte manchmal sowohl gut als auch schlecht sein. „Sicher" antwortete die große Schwester. „Allerdings liegt, so glaube ich, zwischen einem Zwergkaninchen und einem Freund ein Unterschied." Tatsächlich hatte Joela gehofft, die Antwort zu bekommen, dass ein Haustier wohl ein Freund sein konnte, doch die sie kam nicht. Leora hatte inzwischen angefangen Joela fragend anzusehen.

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