- Kapitel 29 -

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Kapitel 29 - Endlose Weiten

Nein. Das konnte nicht passiert sein. Joela wehrte sich entschlossen dagegen, den Gedanken zuzulassen, dass Nico wirklich erschossen wurde. Warum war er nicht mit ihr nach unten gesprungen? Hatte er Angst gehabt? Nein. Nico war der wohl furchtloseste Mensch, den Joela kannte. Das konnte nun wirklich nicht sein. Hat er das Vertrauen verloren? Nein. Er hatte so entschlossen gewirkt. Oder hatte er vielleicht gewusst, was geschehen würde und hat daher so gehandelt? Um sie zu schützen? Sie brauchte keine Hilfe. Sie brauchte keine verdammte Hilfe. Hatte sie das nicht mehr als einmal unter Beweis gestellt? Sie wollte mit ihm glücklich werden. Nicht allein. Nicht ohne ihn. Nicht mit irgendwem sonst. Hatte Joela nicht schon genügend Leute sterben sehen, die ihr viel bedeuteten? Warum denn auch noch Nico?

Ausgerechnet Nico. Er hatte ihr so eine Hoffnung gegeben. Er hatte seinen Glauben an das, was sie machen wollten, nicht verloren. So wie die anderen. Er hatte nicht gezweifelt. Wenn, dann nicht oft, sondern sehr selten. Jedenfalls schien es so nach außen. Hätte sie etwas bemerken sollen? Oder hätte sie gar nichts bemerken können? Joela war so in ihrer Verzweiflung versunken, dass sie das Boot hinter ihr nicht näher kommen hörte.

Diese Augen. Diese grünen, absolut einzigartigen Augen, die einen anstrahlten, wann immer Joela in sie geblickt hatte. Fein definiert und alles an ihnen leuchtete wie ein riesiger Smaragd. Die Hoffnungsfarbe. Nico trug sie in seinen Augen mit sich, geholfen hatte sie ihm am Ende jedoch nichts.

Seine Haare. Blond wie Stroh waren sie gewesen, aber viel weicher und viel besser zum Kuscheln geeignet. Jetzt trieben sie im Meer herum und wurden vom Wasser aufgenommen.

Es war seine ganze Erscheinung, die Joela so über alles liebte. Seine zarte Haut, leicht von der Sonne gebräunt. Seine Körpergröße, perfekt um sich an ihn zu lehnen. Seine großen, starken Arme, die sie festhielten, wann immer sie Angst gehabt hatte. Die breiten Schultern, die diese Arme hielten. Seine schüchterne Niedlichkeit. Die Abneigung gegenüber dem System, die sich im Laufe ihres Zusammenlebens gebildet hatte. Sein Wille, es wirklich jedem recht machen zu wollen. Das Bedürfnis, Joela stets glücklich zu sehen. Und jetzt? Jetzt trieb er dort, irgendwo bei den Felsen, wo er abgestürzt war.

Nie wieder würden seine Augen sie anlachen.
Nie wieder würde sie durch seine sanften Haare streicheln können.
Nie wieder würden seine starken Arme sie festhalten.
Nie wieder würden sie seine Hand halten können.
Nie wieder würden sie einander küssen.
Und nie wieder würden sie jemals zusammen sein.

In diesem Moment erfolgte ein Kurzschluss in Joelas Kopf. Sie wollte jetzt zu ihm. Es war ihr völlig gleich, ob sie erschossen werden konnte oder sonst irgendetwas. Keine Tatsache der Welt schien ihr in diesem Moment so wichtig zu sein, wie diese eine. Oh, hätte sie ihm doch gezeigt, wie sehr sie ihn liebte, als er noch am Leben gewesen war. Das Bedürfnis in ihr wuchs und setzte sich an die Spitze aller Prioritäten, die sie hatte. Sie fühlte sich wie einem abnormalen Wahnzustand, der sich mit jedem einzelnen Gedanken an Nico, ihre einzige große Liebe, zu vergrößern schien.

Als sie losschwimmen wollte, ihren Körper sanft mit dem Bauch auf das Wasser legend, legten sich gleichzeitig zwei starke Arme vorsichtig um ihren Oberkörper und zogen sie aus dem Meer heraus. Joela wehrte sich, trat und schlug um sich und hatte kurzzeitig sogar das Verlangen zu schreien. Aber es war zwecklos. Die Person war deutlich stärker als sie. Wer wagte es, sie einfach so von dem abzubringen, was sie gerade tat?

Jason wagte es. Er war es, der sie aus dem Wasser gefischt und neben sich in das leicht klapprige, hölzerne Ruderboot gesetzt hatte, in welchem eine dritte Person gar keinen Platz gefunden hätte. Seine Kleidung wirkte nicht mehr glatt und fein, sondern war nass und an einigen Stellen sogar dreckig. Er ruderte selbstständig zurück, ohne von Joela überhaupt zu erwarten, dass sie ein Ruder in die Hand nahm. Dabei sagte er die ganze Fahrt über nichts. Er schwieg und sah ihr nur tief in die Augen. Doch das war im Moment nicht relevant für sie.

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