Kapitel 6 - Not und Elend
Nico hatte sich nun endgültig in das Armenviertel gestürzt. Auf der Suche nach einem Mädchen, welches er dort vielleicht nicht einmal finden würde. Das ganze Viertel war einfach nur abstoßend und abschreckend. Es wurde deutlich, dass die Menschen hier nichts besaßen. Zahlreiche Leute saßen bettelnd auf der Straße, in der Hoffnung, etwas von Nico zu bekommen, aber dieser ging eilig vorbei. Er hatte nicht einmal etwas Wertvolles dabei. Also versuchte er, so gut es funktionierte, den Blick auf die Obdachlosen und Kranken zu meiden. Einfach starr geradeaus schauen und nichts in den Blickwinkel lassen. Nicht die Emotionen Überhand gewinnen lassen. Auch wenn es ihm sehr schwerfiel. Die Bewohner dieses Viertel besaßen nichts und fragten nur nach einer kleinen Spende. Das schlechte Gewissen fraß sich durch Nico und nahm sein Inneres komplett ein. Warum wollten sie überhaupt etwas von ihm? Sahen sie nicht, dass er eine Uniform der Hitlerjugend trug und sich offenbar zum System bekannte?
Liebend gern hätte sich Nico eine Kapuze ins Gesicht gezogen, um sich vor den vielen neugierigen Blicken zu schützen, doch im Moment hatte er leider keinen Mantel bei sich. „Seien Sie großzügig. Eine kleine Spende...bitte." Als er nun direkt angesprochen wurde, konnte er nicht mehr wegsehen. Dieses elende Monster namens Gewissen hatte zu viel seines Körpers in Besitz genommen. Nicos Kopf drehte sich zur linken Seite der Straße, auf welcher eine Frau mittleren Alters mit eingefallenen Wangen, verfitztem, dreckigen Haar und viel zu dünner Kleidung mit einem Neugeborenem saß. Dieses schrie voller Verzweiflung, als wüsste es in diesem jungen Alter schon, welche schrecklichen Lebensumstände es hatte und was für ein grausames Leben noch vor ihm lag. Dabei war es vermutlich einfach nur der Hunger, der es plagte. Nico blieb kurz stehen und sah mitleidig auf die kleine Familie hinab. „Bitte, werter Herr. Gott wird es Ihnen gewiss danken." Die Frau schien anzunehmen, er trüge Reichtümer mit sich. Nico konnte nicht wegsehen, doch hatte er nichts, was er der Frau und ihrem Kind geben könnte.
Er verzog das Gesicht, versuchte eine Entscheidung zu treffen. „Ich...habe selbst nichts, was ich Ihnen geben kann.", antwortete er daher wahrheitsgemäß, obwohl sie ihm das vermutlich nicht abkaufte. Wieso sollte sie auch? Das Erscheinungsbild ließ vermuten, dass Nico wahrscheinlich jeden Abend ein warmes Essen auf dem Tisch hatte. Meistens war dem auch so. Allerdings nur wegen der Haushaltshilfe Nikola, die täglich dafür sorgte, dass alles ordentlich war.
Um seine Hände vor dem peitschenden Winterwind zu schützen, der auch durch die Gassen des Viertels zog, steckte er sie in die Taschen seiner Hose, als er etwas fühlte. Ein Bonbon. Wann hatte er denn das dorthin getan? Nico zog es raus und ging vorsichtig näher auf die Mutter zu. „Leider habe ich nicht mehr bei mir, aber nehmt das hier, als Zeichen, dass ich wiederkommen werde." Das gab der Frau immerhin Hoffnung, auch wenn Nico nicht vorhatte wiederzukommen, er konnte dieses ganze Leid nicht ertragen. Viel lieber wäre er an einem Ort, an dem er so tun könnte, als wäre das nicht echt. Als hätte er sich dieses Unmenschliche hier nur eingebildet.
Die Frau bekam daraufhin tatsächlich hoffnungsvolle Augen. Waren sie vorher noch braun und von dunklen Flecken umgeben, leuchteten sie mit einem Mal wie Sterne am Himmel. Sie streckte unter der dünnen Robe ihre rechte Hand aus, um die kleine Gabe entgegenzunehmen. Dabei erkannte Nico, dass ihr zwei Finger fehlten. Der Mittel- und der Ringfinger waren nicht da. Als wären sie niemals dort gewesen. Es war nicht genügend Licht in der Gasse, damit Nico erkennen konnte, wieso sie fehlten. Allerdings glaubte er nicht, dass die Finger einfach so verschwunden waren. Gewiss gab es einen Grund dahinter. Aber Nico legte das Bonbon ab, strich vorsichtig über ihre Hand und fühlte dabei die kleinen Hügel, an welchen die Finger abgetrennt wurden. Schnell zog er seine eigene Hand zurück und betastete sie, als könnten durch die bloße Berührung ebenfalls zwei seiner Finger abhandengekommen sein. „Habt Dank, werter Herr.", sagte die Frau und lächelte ihn noch immer hoffnungsvoll an. Viele Zähne fehlten in ihrem Mund. Nico nickte knapp, brachte ein Lächeln zustande und beeilte sich, wegzukommen.
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- System gegen Liebe -
Historical FictionEr ist Nationalsozialist, sie Jüdin. Sie lieben sich. Irgendwie. Trotz der grausamen Geschehnissen ihres Landes. Nico weiß nicht was er tun soll... Sein Land verraten und Joela lieben oder Joela verraten, für die Ehre des Landes? Sein Leben wird au...