Kapitel 10

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Anna erwachte, als der Duft von warmen Brot an ihre Nase drang. Sie lächelte mit geschlossenen Augen und genoss die lärmenden Geräusche, die ihre Mutter in der Küche verursachte. Am ersten Morgen hatte Anna noch versucht, ihr zu helfen, aber das hatte nur für noch mehr Chaos gesorgt. Lydia war eine sehr organisierte Frau, bei der jeder Handgriff perfekt sitzen musste und dass ihre wiedergewonnene Tochter zwischen ihren Backzutaten herumwühlte, hatte sie mehr aufgeregt, als dass es ihr geholfen hatte. Erst beim Abwasch hatte Anna ihrer Mutter wieder beistehen können, ohne dass sie die genervten Blicke eben dieser auf sich gespürt hatte. Immer wieder hatte sie versucht, Lydia mit einfachen Gesprächen abzulenken, aber ihre Mutter war so konzentriert gewesen, dass sie keine Chance gehabt hatte, eine Unterhaltung aufzubauen.

Wenigstens hatte Anna mittlerweile erfahren, wer diese Männer in der schwarzen Kleidung gewesen waren. Sie stammten aus einem Ort namens Domilus, zumindest hatte Annas Vater ihr erklärt, dass er so hieß. Es war eine Stadt, zu der nur wenig Menschen Zutritt hatten, die aber nur einige Stunden von Annas Dorf entfernt lag. Anna konnte nicht verhindern, dass ihr Herz schneller schlug, wenn sie daran dachte, wie nah sie Ben doch war. Wie nah er ihr gewesen war, bevor der Wagen davonfuhr. Hätte er sich nur eine Sekunde umgedreht, dann hätte er sie ... Anna öffnete die Augen.

Was hätte er dann?

Was erhoffte sie sich eigentlich?

Seit fünf Wochen war sie nun hier in ihrem Heimatdorf und sie mochte es. Sie mochte ihre Eltern, die liebevolle Art, mit der die Menschen miteinander umgingen und irgendwie mochte sie sogar den Unterricht, den ihre Mutter ihr jeden Tag gab. Die Heilkräuter und Tinkturen konnte sie mittlerweile auswendig, wobei ihr natürlich auch die Tatsache half, dass sie all das schon im Camp gelernt hatte. Ihre Mutter hatte gleich am zweiten Tag damit begonnen, Annas Fähigkeiten zu vertiefen. Vorher würde sie sie an keine Schwangere, geschweige denn an ein Neugeborenes, heranlassen.

„Anna, Frühstück ist fertig." Lydias Stimme hallte durch den Raum, als Anna ihr auch schon nachkam und die Beine über den Bettrand schwang. Ihre Handgriffe wirkten für sie selbst schon fast automatisiert, als sie nach ihrem braunen Kleid griff und es über ihren Kopf stülpte. Dann nahm sie zwei braune Bänder, von denen sie das eine um ihre Hüfte und mit dem zweiten, kürzeren ihre blonden Haare zu einem Zopf zusammenband. Als sie sich schlussendlich noch die braunen Lederschuhe an ihre Füße gezogen hatte, trat sie zum Küchentisch und ließ sich neben ihrer Mutter auf einen der Stühle sinken.

„Hast du dir gestern noch die Notizen angesehen, die ich dir gegeben habe?" Anna brach ein Stück von dem frisch gebackenen Brot ab.

„Natürlich", entgegnete sie ihrer Mutter lächelnd.

„Wenn die Tinktur moosgrün ist, dann?"

„Dann wurde kein abgekochtes, gereinigtes Wasser genutzt sondern verschlammtes. Es vermischt sich mit den Kräutern und dem Honig darin und verfärbt die gesamte Tinktur. Wenn sie so verabreicht wird, stirbt die Patientin und, oder ihr Kind innerhalb weniger Stunden." Lydia klatschte freudig in die Hände, während Anna ein Glas Wasser an ihre Lippen setzte.

„Und was tut man, wenn das Baby gerade geboren ist?" Anna war froh, dass sie ein Morgenmensch war. Ansonsten hätte sie es wohl mehr als gehasst, wenn ihre Mutter schon direkt nach dem Aufwachen mit ihren Fragen begann.

„Man wäscht es ab, damit es vom Blut und anderen Überresten der Geburt befreit wird. Danach wickelt man es in eine saubere Decke, damit es nicht unterkühlt. Nachdem sich auch die Mutter beruhigt hat und ihr Herzschlag wieder gleichmäßig ist, gibt man das Baby an sie weiter."

„Hast du nicht etwas vergessen?" Anna biss das letzte Stück ihrer Scheibe Brot ab.

„Das Neugeborene wird beim und nach dem Waschen gründlich untersucht. Sollte es Hautausschlag oder ähnliches haben, wird die passende Salbe aufgetragen." Wieder klatsche Lydia in die Hände und nicke, während Anna ihre Teller packte und zur Küchenzeile trug. Auch das war in den letzten Wochen zu einem Ritual geworden. Ein schnelles Frühstück und Abfrage ihrer Lernvorschritte. Es war wie im Camp. Nur irgendwie besser.

Just One Touch - Nur eine BerührungWo Geschichten leben. Entdecke jetzt