Kapitel 16

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Anna erwachte nach einem traumlosen Schlaf. Kean hatte ihr am gestrigen Tag das gesamte Lager gezeigt und ihr vieles erklärt, während sie einfach geschwiegen und ihm zugehört hatte. Eigentlich war das gar nicht ihre Art, aber es hatten ihr so viele Fragen auf der Seele gebrannt und sie hatte Angst davor gehabt, dass Kean damit aufhören würde, sie ihr zu beantworten. Er misstraute ihr immer noch und er hatte keinen Hehl daraus gemacht, wie sehr es ihm missfiel, dass er derjenige war, der ihr alles zeigen musste. Zumindest hatte sie dieses Gefühl gehabt. Das Gefühl, unerwünscht zu sein. Sie war und blieb eben ein Eindringling. Ein Eindringling in einem Lager voller Menschen, die niemand haben wollte. Mit Fähigkeiten, die sie nicht verstand. Kean hatte ihr erklärt, dass die roten Augen nur einige von ihnen trugen und dass es ebenso wie fehlende, zusätzliche oder doppelte Gliedmaßen eine Mutation war, die sie nicht beeinflussen konnten. Sie hatten sie seit ihrer Geburt. Genauso wie einige wenige von ihnen solche Fähigkeiten besaßen wie er, der sich in einem begrenzten Radius von einem Ort zum anderen Ort teleportieren konnte, und Kenia, die schon mehr Freunde geheilt hatte, als sie zählen konnte. Kean hatte Anna zwar nicht verraten, wer noch Fähigkeiten besaß noch wie sie funktionierten, aber das war auch nicht wichtig. Die Rotäugigen vertrauten Anna nicht und das war auch ihr gutes Recht, wenn man bedachte, wie sie in den Städten und Dörfern behandelt wurden. Einigen von ihnen war es mithilfe ihrer Eltern oder Hebammen gelungen, sich vor den anderen Menschen zu verbergen. So war es ihnen möglich gewesen, in den Dörfern und Städten zu leben. Aber ihre Einzigartigkeit war immer über die ein andere Art und Weise doch ans Tageslicht gekommen. So waren sie, wenn die Wachmänner sie nicht vorher getötet hatten, im Wald gelandet. Natürlich war das alles nur denen gelungen, die nicht mit roten Augen geboren worden waren. Wenn dem so war, dann hatten sie keinerlei Möglichkeit zu verbergen, wer sie waren. Sie waren darauf angewiesen, dass ihre Eltern sie nicht sofort töteten, sondern im Wald aussetzten, damit die Schamee diese Kinder aufnehmen konnten. Die Rotäugigen hatten allerdings laut Keans Erzählungen auch Unterstützer in den Dörfern, die bei jeder neuen Geburt beobachteten, ob das Kind ein Schamee war. Wenn dem so war, sendeten sie Botschaften, die allerdings so manches Mal zu spät kamen.

So wie bei Gabriel.

Anna seufzte. Auch wenn sie das alles nicht gut heißen konnte, konnte sie verstehen, warum diese Wesen so handelten, wie sie es taten. Die Menschen der Städte und Dörfer fürchteten sie und deshalb wurden sie getötet. Auch wenn Anna nicht verstehen konnte, wieso sie ermordet werden mussten. Gabriel hätte auch mit einer Hand eine Bereicherung für die Gesellschaft sein können. Aber obwohl die Schamee insgesamt sehr wertvoll für sie sein konnten, kannten die Wachmänner keinerlei Gnade. Genauso wie Ben keine gekannt hatte.

Ben...

Anna schloss die Augen. Wenn sie an ihn dachte, sah sie den Wald vor sich. Die Klippen. Den Bunker. Ihre Gespräche und die Berührung, die sie sich immer gewünscht hatte. Doch dann kam ihr immer wieder das Bild in die Erinnerungen zurück, das sie verdrängen wollte. Gabriel. Wie er voller Hoffnung Ben seine Arme entgegen gestreckt hatte und er... Anna öffnete die Augen wieder und ohne dass sie es wollte, schlichen sich Tränen in sie zurück. Wie hatte er das nur tun können? Ihr Ben wäre niemals dazu in der Lage gewesen. Was hatten diese Menschen ihm nur gesagt, dass er dazu fähig gewesen war? Wieder seufzte Anna auf, ehe sie sich erhob und das Kleid und den Haarschmuck über sich streifte. Kean hatte ihr erklärt, dass die Kleidung verhinderte, dass man sie in den Wäldern erkannte. Die schwarzen Felle und Farbe trugen die Schamee nur, wenn sie in die Dörfer eindrangen, um ihresgleichen zu beschützen. Die Menschen hatten so mehr Angst vor ihnen und gingen ihnen aus dem Weg. Im Idealfall rannten sie sogar davon. So wie es im Camp gewesen war. Eigentlich hielten sich Keans Leute fern von den Menschensiedlungen, aber manchmal mussten sie einfach eingreifen. So war es auch bei Talia gewesen. Durch ihre Verletzungen war sie für die Menschen unbrauchbar geworden. Ihre Aufseher hatten die Wachmänner gerufen, die sich Talias entledigen wollten, und Kean hatte sie gerettet. So war zumindest seine Geschichte und Kenia hatte sie bestätigt.

Just One Touch - Nur eine BerührungWo Geschichten leben. Entdecke jetzt