Ben war der erste, der nach dem Regen das Wohnheim verließ, und den Schreien folgte, die sie gehört hatten. Sie waren ihm durch Mark und Bein gefahren, während er sich nach außen nichts hatte anmerken lassen. Die anderen Jungen und sogar Don hatten getuschelt wie junge Hühner und sich das Maul darüber zerrissen, welches Mädchen oder junge Frau es wohl dieses Mal nicht bis in Sicherheit geschafft hatte. Ben hatte sich kurz über Don gewundert, dann aber die Unterhaltungen weiter ignoriert. Sein Blick hatte den Straßen gegolten, auf die der leichte Regen geplätschert war. Obwohl die dunklen Wolken mehr verhießen hatten, war zum Glück die Sonne schon wieder am Horizont zu sehen gewesen. Aber solange der Regen nicht aufgehört hatte, war Ben nicht in der Lage gewesen, ins Freie zu treten. Nun aber ging er schnellen Schrittes zu dem Wohnhaus der Mädchen. Direkt hinter ihm befand sich Don, dessen ernstes Gesicht Ben zeigte, dass er das gleiche dachte wie er. Hoffentlich hatte die Natur es nicht wieder geschafft, einen von ihnen mit sich zu nehmen.
Als die beiden Männer nun die letzte Hausecke hinter sich ließen, bot sich ihnen ein schrecklicher Anblick. Fünfzig Meter vor dem Wohnheim der Frauen lag ein junges Mädchen, das Ben auf höchstens zehn Jahre schätzte. Sie lag auf dem Bauch und ihr Gesicht hatte wohl im Dreck gelegen, denn es war voller Schlamm, auch wenn ihr Kopf mittlerweile zur Seite gedreht worden war. Ihre Kleidung war durch den ätzenden Regen kaum noch vorhanden und die Haut darunter feuerrot. Das pure Fleisch trat aus ihr hervor und Ben konnte sich gut vorstellen, dass die Kleine durch den Schmerz allein ohnmächtig geworden war. Selbst der feuchte Boden brannte durch seine Schuhe und Socken, sodass die reine Säure auf der Haut mehr schmerzen musste, als man es sich vorstellen konnte.
„Du gehst zurück", knurrte Don plötzlich und zwang Ben dadurch, stehen zu bleiben. Er wusste, dass sein Betreuer ihm nur gestattet hatte, bis hierher zu gelangen, weil er mehr Opfer befürchtet hatte. Ben schaute seinem Betreuer nach, während er zu dem Mädchen rannte, und versuchte damit zu verschleiern, wem wirklich seine Aufmerksamkeit gehörte. Anna kniete neben dem Mädchen im Dreck und hielt ihre kleine Hand, die ebenso wie alles andere mit offenen Stellen übersät war. Vor Wut ballte Ben seine Faust, als sein Blick auf Annas Beine fiel, von denen aus leichte Blutspuren über den Boden liefen. Der Blondine schienen ihre eigenen Wunden überhaupt nicht aufzufallen. Sie weinte hemmungslos und fuhr dem ohnmächtigen Mädchen immer wieder durch die nassen Haare. Am liebsten hätte Ben sie gestoppt, denn jede Berührung, die Anna dem kleinen Mädchen schenkte, half dieser in keiner Weise und bedeutet für sie selbst nur Schmerz. Aber er durfte es nicht. Er durfte nicht einmal hier sein. Fluchend fuhr Ben sich durch die Haare.
Wieso war die Kleine nur so langsam und ungeschickt gewesen?
Und warum war sie Anna so wichtig?
Die Blondine schloss die Menschen um sich herum einfach viel zu schnell ins Herz und vergaß dabei immer sich selbst.
„Benjamin!" Dons Stimme riss Ben aus seinen Gedanken. Ohne Umschweife drehte er sich um und ging den Weg zurück, den er gekommen war. Natürlich war keiner der anderen Jungen ihnen gefolgt. Jedem von ihnen fehlten die Courage oder der Mut, denn schließlich konnte es jeden Moment wieder anfangen zu regnen, selbst wenn der Himmel sich langsam wieder aufklarte.
Normalerweise ärgerte Ben sich über die Ignoranz seiner Mitschüler, doch in diesem Moment kam sie ihm sehr gelegen, denn dadurch war keiner außer ihm hier. Mit diesem Gedanken versicherte sich Ben, dass er von seiner neuen Position aus weder vom Mädchenwohnheim noch vom Haus der Jungen einsehbar war, ehe er wieder stehen blieb. Gut hinter einer überwucherten Ruinenmauer verborgen, konnte er die Szenerie weiter beobachten, ohne dabei von Don oder Agata erwischt zu werden. Er sah zu Anna, die aufgeregt immer wieder das gleiche Wort murmelte. Ben konzentrierte sich auf ihre Lippen.
Talia.
War das der Name des Mädchens?
Eine bekannte Szene tauchte in Bens Kopf auf. Er und Anna waren bei einer der alten Ruinen im Wald gewesen und sie hatte ihm von einem Mädchen erzählt, das so war wie sie selbst. Ein Freigeist, der sich sehr freuen würde über das Loch im Zaun, durch das sie so viel erleben konnte. Ben seufzte leise. Diesem Mädchen hatte Anna ihr Geheimnis anvertrauen wollen? Sie war nicht einmal in der Lage gewesen, geradeaus zu laufen, um sich vor einfachem Regen in Sicherheit zu bringen, wie sollte sie da auch nur einen Tag in diesem gottverdammten Wald überleben?
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Just One Touch - Nur eine Berührung
FantasyRote Augen. Als Anna diese zum ersten Mal erblickt, weiß sie, dass das Leben, wie sie es kennt, vorbei ist. Während sie bis dahin sorglos in einem der vielen Camps außerhalb der Gesellschaft leben konnte, muss sie plötzlich lernen, was das wahre Leb...