Kapitel 9

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„Das ist unser Dorf." Lydia hatte neben sich einen großen Ast zur Seite geschoben und war im Geäst verschwunden. Anna beeilte sich, ihr zu folgen. Sie schlüpfte unter dem Ast hindurch, passierte ein paar Sträucher, ohne etwas dabei sehen zu können, und kam dann neben ihrer Mutter zum Stehen. Vor ihnen lag eine große Lichtung, auf der viele kleine Steinhäuser gebaut worden waren, die allesamt sehr ähnlich wirkten. Sie lagen dicht beieinander und besaßen kaum Fenster. Und wenn doch, wiesen diese keine Gläser auf, sondern konnten mit großen Brettern verschlossen werden. Betonierte Wege gab es hier genauso wenig wie im Camp, sondern nur schmale Gassen, die mit kleinen Steinen beschüttet worden waren, die das ganze etwas idyllischer wirken ließen. Auf einem Platz in der Mitte der Lichtung konnte Anna einen kleinen Brunnen ausmachen und Holzbänke, auf denen sich in diesem Moment ein paar alte Frauen ausruhten. Anna betrachtete sie. Für sie war Agata immer alt gewesen, aber jetzt sah sie ein, dass ihre Lehrmeisterin doch noch ziemlich jung gewesen sein musste.

„Alles in Ordnung?" Annas Mutter stellte sich neben sie und folgte ihrem Blick. Dann lächelte sie, ehe sie sie sich auf die erste Häuserreihe zuschritt. „Ist wohl ein ganz neuer Blickwinkel, was?" Anna erwiderte das Lächeln und nickte.

„Und alles sehr plötzlich", gab sie offen zu, „Schließlich sollte ich ja eigentlich erst in ein paar Tagen hierher kommen." Anna folgte ihrer Mutter durch die Gassen zwischen den Häusern entlang. Auch von nahem ähnelten sie einander so sehr, dass Anna sich sicher war, dass sie eine Weile brauchen würde, ehe sie das Richtige unter ihnen erkennen konnte. Ob es die Nachbarn wohl gewohnt waren, wenn fremde Leute in ihren Zimmern standen, weil sie sich verlaufen hatten?

„Ja, wir haben davon gehört", erwiderte Annas Mutter plötzlich und riss die Blondine so aus ihren Gedanken. „Eine Tragödie, dass sie euch gefunden haben." Neugierig sah Anna zu ihrer Mutter.

„Weißt du etwas davon?", fragte sie aufgeregt, „Wer waren diese Wesen?"

„Welche Wesen?" Verständnislos sah Lydia ihrer Tochter entgegen.

„Schon gut." Anna seufzte. Natürlich. Wieso hätte sie auch jetzt die Antworten bekommen sollen, die sie schon im Camp nicht erhalten hatte? Enttäuscht folgte die junge Blondine ihrer Mutter weiter, bis sie an einem der Häuser im hinteren Teil des Dorfes stehen blieb.

„Lydia!" Eine junge Frau trat aus dem Nebenhaus. In ihren Armen hielt sie ein kleines Baby, das seine Augen geschlossen hatte. Ein weiteres trug sie in einem Tuch vor ihrer Brust, sodass Anna es nur den kleinen Haarschopf erkennen konnte, der daraus hervorlugte.

„Guten Tag. Geht es dir schon wieder besser?" Annas Mutter trat an die junge Frau heran und nahm ihr das Baby aus dem Arm.

„Ja, den Kleinen auch. Die Salbe hat Wunder gewirkt." Lydia schob das Tuch, in das das Baby eingewickelt war, ein Stück zur Seite. Das Baby kicherte laut auf, als sie über seinen Bauch strich.

„Der Ausschlag ist auch so gut wie weg. Nimm die Salbe nur noch einmal täglich und dann schaue ich es mir in ein paar Tagen nochmal an." Anna beobachtete fasziniert, wie ihre Mutter der jungen Frau das Baby wieder zurück in die Arme legte und dem zweiten behutsam über den Kopf strich. Die Fremde nickte lächelnd, bedankte sich und folgte dann dem Weg, den Anna und ihre Mutter eben entlang geschritten waren.

„Die Armen", flüsterte Annas Mutter plötzlich. Fragend wendete die Blondine sich ihr zu.

„Die Zwillinge", erklärte diese, ohne ihren Blick von der fremden Frau abzuwenden. „In ein paar Monaten werden sie ein halbes Jahr alt und dann werden sie abgeholt. Und getrennt." Stumm sah Anna ebenfalls der jungen Frau hinterher. Sie hatte gewusst, dass die Kinder nach einem halben Jahr erst einmal in eine Pflegestation und dann mit drei Jahren in ein Camp gebracht wurden, aber diese Frau wirkte so glücklich und entspannt, dass Anna sich gar nicht vorstellen konnte, wie es ihr ergehen würde, wenn ihr die Kinder genommen wurden.

Just One Touch - Nur eine BerührungWo Geschichten leben. Entdecke jetzt