Kapitel 32

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„Das ist der letzte." Anna deutete auf einen Jungen von etwa fünfzehn Jahren, der eng umschlungen in den Armen seiner Mutter stand und schon minutenlang auf sie einredete, dass sie ihn loslassen sollte. Lächelnd beobachteten die Blondine und Kenia das Schauspiel. Während diese Liebesbekundungen für die Schamee wohl nichts Außergewöhnliches waren, kam es Anna wie ein Wunder vor. Diese Kinder durften bei ihren Eltern aufwachsen und nicht in irgendeinem Camp, ohne zu wissen, wer sie wirklich waren oder wohin sie gehörten. Und es funktionierte auch so. Obwohl Anna zugeben musste, dass bei den Schamee auch einfach alles anders war. Bei diesen Menschen gab es kaum Standesunterschiede, stattdessen waren sie eine Gruppe. Ein Volk, das Tag für Tag um sein Leben kämpfen musste, und keine Zeit hatte, sich um Stand und Ansehen zu kümmern. Sie lebten füreinander und nicht um Kriege zu verhindern, die vielleicht niemals kommen würden. Anna sah an sich herunter. Sie trug wieder ein grünes Kleid, das Kenia ihr geliehen hatte, da ihre Kleidung sich noch in Domilus unter Verschluss befand oder womöglich bereits verbrannt worden war. Das einzige, was Anna noch hatte, war der kleine Dolch, den Kean ihr am See gegeben hatte. Sie hatte ihn damals im Zelt verloren, ehe Ben sie mitgenommen hatte, und nun hatte Kenia ihn ihr wiedergegeben. Anna war so froh darüber gewesen, dass sie der Schamee direkt um den Hals gefallen war. Sie konnte es sich selbst nicht erklären, aber dieses kleine Ding war ihr so vertraut, dass sie sich einfach besser fühlte, seit sie es wieder an ihrem Gürtel trug. Auch wenn sie es immer noch nicht benutzen würde. Niemals.

Kenia legte Anna eine Hand auf die Schulter.

„Das hast du gut gemacht", wiederholte sie. Anna hatte das Gefühl, dass Kenia diese fünf Worte schon hundert Mal gesagt hatte. Das lag wohl daran, dass auch Kenias Bruder unter den Rotäugigen aus dem Labor gewesen war. Sie hatten nach dem Geheimgang einige Zeit gebraucht, ehe sie im Lager angekommen waren und viele der Gefangenen waren so erschöpft gewesen, dass Kean und seine Männer sie hatten tragen müssen. Das Adrenalin war aus ihren Körpern gewichen und damit auch die Kraft. So hatte es gedauert, bis sie bei den Felsen angekommen waren. Außerdem hatten immer wieder einige der Schamee nachgesehen, ob ihnen auch wirklich niemand folgte. Nachdem sie dann das Lager erreicht hatten, waren Kenia und andere Heilerinnen sofort ans Werk gegangen und hatten sich um die Neuankömmlinge gekümmert, während die Männer dafür sorgten, dass das Lager Stück für Stück abgebaut wurde. Sie mussten weiter, denn zu groß war die Gefahr, dass die Wachmänner sie verfolgen und finden würden.

„Anna." Kean stellte sich neben sie. „Da ist jemand für dich." Verwundert sah die Blondine zu dem Mann neben sich, der keine Miene verzog. Seit sie aus Domilus entkommen waren, hatte Anna das Gefühl, dass Kean ihr etwas sagen wollte, aber bis jetzt hatte er sich noch nicht dazu durchgerungen.

„Wer?", fragte sie leise. Es gab nur wenige Personen, die Interesse an ihr haben konnten. Und noch weniger, die sie jetzt sehen wollte. Kean trat einen Schritt zur Seite und deutete auf eine Gestalt, die am Rande des Lagers neben einem Baum stand und in ihre Richtung zu blicken schien. Sie hatte ihre Kapuze tief in ihr Gesicht gezogen und den Körper in einen braunen Umhang gehüllt. Kurz sah Anna noch zu Kean, der ihr aufmunternd zunickte. Zögerlich setzte sie sich in Bewegung und ging langsam auf die Person zu, doch als sie die Kapuze von ihrem Kopf zog, begann Anna wieder zu lächeln. Sie breitete die Arme aus, aber ehe sie der Gestalt nahe kommen konnte, hielt diese sie mit einer Handbewegung von sich fern. Fragend stoppte Anna in der Bewegung und ließ ihre Arme wieder sinken.

„Hallo, Kind", murmelte die Frau vor ihr. Ihre blonden Haare wehten im Wind, während sie sprach. Ihre Stimme war dunkler, wie Anna fand, und brüchig.

„Hallo Mutter." Anna lächelte Lydia entgegen, doch deren Miene blieb hart.

„Ich hätte früher kommen sollen. Aber ich wusste nicht, was ich sagen sollte." Das Lächeln verschwand aus Annas Gesicht, während ihre Mutter sprach. Tränen standen in den Augen der älteren Frau, als sie plötzlich Annas Hände in die ihren nahm.

Just One Touch - Nur eine BerührungWo Geschichten leben. Entdecke jetzt