Kapitel 4

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Obwohl Ben die halbe Nacht mit Anna im Wald verbracht hatte, konnte er die Augen auch noch nicht schließen, als er sich schon längst wieder in seinem Schlafraum befand. Er wusste selbst nicht, was heute mit ihm los gewesen war. Wahrscheinlich hatte er erst jetzt realisiert, dass der Tag gekommen war, an dem er das Camp wirklich verlassen würde und das bedeutete nun einmal auch, dass er Anna verlassen musste.

Aber bevor das geschah, musste er noch eine Sache erledigen. Egal, welche Konsequenzen das mit sich bringen würde.

„Du glaubst selbst nicht daran." Annas Worte hallten wieder und wieder durch Bens Kopf. Er hatte ihr an diesem Abend versprochen, dass er sie finden und niemals aufgeben würde, aber er war auch ein Realist. Er hatte gewollt, dass es ihr besser ging und sie seinen Abschied nicht so schwer nahm, dabei hatte sie die Lage bereits erkannt. Ben würde heute abgeholt werden und dabei herausfinden, woher er kam und wo seine Wurzeln lagen. Er würde endlich ein funktionierendes Mitglied der Gesellschaft werden – in welche Schicht er im Endeffekt auch gehörte. Er würde endlich seinen Platz in der Welt finden. Aber er wusste nicht, wie weit seine Wurzeln ihn von hier fortbringen würden. Und wohin es Anna nach kurzer Zeit verschlagen würde. Im Camp hatten sie gelernt, dass jeder in der Gesellschaft wichtig war und dass man alles und jeden wertschätzen musste, aber Ben fragte sich bereits seit langem, ob in der Welt dort draußen auch wirklich demnach gehandelt wurde. Heute würde er es endlich erfahren, aber egal, was das bedeutete, Ben glaubte fest daran, dass er Anna wiedersehen würde.

Allerdings wusste er nicht, wie sie sich dann gegenüber stehen würden. Die Blondine hatte recht, egal was er ihr versprach, die Zeit erst würde zeigen, in wie weit er sein Versprechen halten konnte.

Genervt fuhr Ben sich durch sein dichtes Haar. Er wollte immer von hier fort und die Welt sehen. Nicht mehr hinter diesem Zaun vor allem verborgen werden, sondern etwas beitragen können. Sich ein Leben aufbauen, das es hier nicht gab. Don hatte den Jungen beigebracht, was sie wissen mussten, egal in welche Schicht sie hineingeboren waren. Jeder von ihnen konnte ein Feld bestellen, aber er konnte auch schwere, mathematische Gleichungen lösen – wenn sein Geist denn dazu im Stande war. Sie konnten mit dem Schwert wie auch mit einer Schusswaffe umgeben, aber sie wussten auch, wie man sich auf einem Empfang verhielt und Walzer tanzte. Feuer machen und gehobene Sprache hatte auf ihrem Stundenplan gestanden. Sie waren auf alles vorbereitet worden, nur nicht darauf, einer vollkommen fremden Familie gegenüber zu treten und ihr Kind zu sein. Früher als kleiner Junge hatte sich Ben oft gewünscht, dass seine Familie ihn besuchte oder dass er sie wenigstens einmal gesehen hätte, schließlich hatte er keine Erinnerungen an sie. Dazu war er wie alle anderen viel zu jung gewesen, als man ihn hierher gebracht hatte. Kaum eines der Kinder erinnerte sich noch an das Gesicht seiner Mutter oder seines Vaters. Ben konnte sich nicht vorstellen, wie es war, wenn einem die Kinder genommen und an einen unbekannten Ort gebracht worden, damit man sie nicht mehr erreichen konnte, aber er würde es in der Zukunft erfahren. Auch er würde seine Kinder für so viele Jahre verlieren und nicht wissen, was mit ihnen geschah. Nur wenige Menschen wussten, wo die Camps lagen und wenn sie es verrieten, wurde das mit dem Tode bestraft und die Camps zogen weiter. Kein Kind durfte seine Eltern vor dem zweiundzwanzigsten Geburtstag kennen lernen, noch dadurch seinen Stand erfahren. Sie mussten unberührt von alledem aufwachsen, um der Welt frei von allen Vorurteilen entgegentreten zu können.

Ben schloss seine Augen und versuchte, seine Atmung zu regulieren. Wenn er sich darauf konzentrierte, gelang es ihm in der Regel, Schlaf zu finden, doch heute war daran nicht zu denken.

Frustriert öffnete der junge Mann seine Augen wieder und starrte an die Decke des Schlafraumes. Früher war er ihm immer so groß vorgekommen, als er noch am Ende der Schlange gestanden hatte. Die anderen Jungen vor ihm waren alle so alt und klug gewesen, dass er gedacht hatte, nie zu ihnen aufschließen zu können. Also hatte er sich mehr und mehr angestrengt, um genauso zu werden wie sie. Ben hatte sie alle als erwachsene Männer das Camp verlassen sehen, während er in dieser Zeit immer besser geworden war. Und nun stand er am Anfang der Schlange. Nun war seine Zeit gekommen.

Just One Touch - Nur eine BerührungWo Geschichten leben. Entdecke jetzt