Kapitel 26

97 6 0
                                    

Es war tief in der Nacht, als Anna aus ihrem Schlaf nach oben schreckte. Es war ein Albtraum gewesen, der sie nicht mehr schlafen ließ. Dunkle Gedanken, die ihr gefolgt waren und sie nicht mehr losgelassen hatten. Und nun lag sie da, starrte an die Decke ihres Zimmers und wusste, dass sie kein Auge mehr zubekommen würde. Nachdem sie an Bens Brust geweint hatte, hatte er sie nur widerwillig gehen lassen. Aber sie hatte ihn gebeten, ihr zumindest so viel Freiraum zu lassen, die Nacht alleine zu verbringen. Es war ihr alles zu viel geworden. Auch wenn sich jede Berührung schön anfühlte, kam es ihr so vor, als würde Ben plötzlich so viel mehr von ihr erwarten, als sie ihm geben konnte. Sie war froh gewesen, als er ihr erlaubt hatte, alleine zu sein. Trotzdem hatten sie ihre Gedanken auch in der Nacht nicht ruhen lassen. Schreckliche Bilder hatten sie aus ihrem Schlaf gerissen und sie verfolgten sie auch jetzt noch.

Es war Ben gewesen, der sie heimgesucht hatte. Auf einer Lichtung mitten im Wald hatten sie gestanden. Sie hatten sich an der Hand gehalten und Ben hatte ihr zugeflüstert, wie sehr er sie liebte. Sie hatte es genossen, dort zu sein. Die Sonne hatte den Tag erhellt und im Wasser geglitzert. Dann war Annas Blick auf Bens Spiegelbild gefallen. Dort war jedoch nicht der junge Mann im Anzug zu erkennen gewesen, den sie liebte, sondern Aschtan. Der blinde Luchs aus dem Wald. Er hatte ihr mit seinen trüben Augen entgegen geblickt, als könnte er direkt in ihre Seele sehen. Anna hatte ihre Augen erst nicht von ihm abwenden können, sodass sie in die Knie gegangen war und die Finger nach dem Luchs ausgestreckt hatte. Bevor sie jedoch das Wasser hatte berühren können, war Aschtans Blick plötzlich anders geworden. Wütend. Bedrohlich. Er hatte die Zähne gefletscht und geknurrt. Anna war zurück gewichen. Sie hatte Bens Namen geflüstert und nach dem Grund gefragt, warum Aschtan bei ihnen war. Dann hatte sie sich langsam wieder ihrem Begleiter zugewendet und war erstarrt. Ben war weg. Verwundert drehte sie sich im Kreis, doch Ben war und blieb verschwunden. Sie rief nach ihm, während ihre Umwelt begann, sich von sich selbst aus um sie zu drehen. Anna stoppte und fuhr herum. Aschtans Gesicht war direkt vor ihr. Seine Augen so klar, wie sie es noch nie vorher gewesen waren. Bereit zum Angriff rannte er los, direkt in sie hinein. Und sein Körper verschmolz mit dem ihren.

In diesem Moment war Anna schreiend aufgewacht. Und seitdem lag sie dort in ihrem Bett, dachte an Aschtans Gesicht und daran, was dieser Traum ihr sagen wollte.

Seufzend schob Anna die Decke zur Seite und erhob sich. Sie konnte und wollte nicht mehr dort liegen und an Aschtan denken. Schnell entledigte sie sich ihres Nachthemdes und ließ das schwarze Kleid über ihren Kopf gleiten, das sie an ihrer Hüfte mit einem Gürtel verengte. Dann verließ sie das Zimmer. Ein warmer Tee aus Kräutern und es würde ihr wieder besser gehen. Vielleicht würde er ihr auch beim Einschlafen helfen. Mit diesem Gedanken schlich die Blondine barfuß durch die Gänge des großen Gebäudes und war dabei sehr darauf bedacht, keine unnötigen Geräusche zu machen.

„Was tust du hier?" Erschrocken schrie Anna auf und fuhr herum. Ein älterer Mann stand vor ihr, dessen grauen Haare in kurzen Locken um seinen ovalen Kopf lagen und einen starken Kontrast zu dem schwarzen Anzug bildete, den er trug. Ben hatte ihn ihr gestern noch vorgestellt. Bernard war sein Name und er war der treuste Diener von Bens Familie und Anna bis jetzt freundlich vorgekommen. Nun aber musterte er sie mit einem strengen Blick. Sofort zog sich eine Gänsehaut über ihren Körper. Warum mussten alle Menschen hier nur so unheimlich sein?

„Ich wollte mir einen Tee machen", erklärte Anna vorsichtig, „Deshalb bin ich gerade auf dem Weg in die Küche." Sie deutete auf die Wendeltreppe. Ben hatte ihr bei seinem Rundgang das ganze Haus gezeigt und dabei selbst die Küche nicht ausgelassen. Sie wusste also genau, wo sie das fand, was sie suchte. Zumindest wenn Bernard sie an sich vorbei ließ. Vorsichtig lächelte sie ihren Gegenüber an, doch dieser verzog keine Miene.

„Ich bringe dir einen Tee." Vehement schüttelte Anna den Kopf.

„Ich kann das selbst, danke. Außerdem brauche ich die Bewegung gerade. Ich hatte einen Albtraum", gestand sie, während sie einen Schritt nach vorn trat. Sofort wurde sie von Bernard grob am Arm gepackt. Sie sah, wie sich seine Finger immer mehr in ihre Haut verkrampften und spürte den Schmerz, den sie hinterließen, während Bernards Blick immer wütender wurde.

Just One Touch - Nur eine BerührungWo Geschichten leben. Entdecke jetzt