Kapitel 3

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Es war später als gewöhnlich, als Anna sich aus ihrem Fenster hinaus ins Freie schwang und durch die Gassen zwischen den Ruinen zum Treffpunkt schlich. Sie fühlte sich kraftlos und allein. Talias Schreie hallten immer noch in ihren Ohren und obwohl Anna versucht hatte, ein wenig zu schlafen, hatte sie die Bilder nicht aus ihrem Kopf verbannen können. Sie sah noch immer direkt vor sich, wie der Regen auf Talias reine Haut getropft war, ihr die Kleidung zerfetzt und ihre Wunden immer weiter vertieft hatte. Sie sah das bleiche Gesicht, als sie sich neben der Dreizehnjährigen zu Boden geworfen und verzweifelt ihren Namen gerufen hatte. Zu keinem Zeitpunkt hatte Talia ihr geantwortet und Anna fürchtete, dass sie die Stimme ihrer Freundin nie wieder hören würde. Das Agata ihr auch noch den Umgang mit Talia verboten hatte, schmerzte zusätzlich. Dagegen waren ihre aufgerissenen Beine und ihre blutenden Hände gar nichts. Eine Ärztin war vorhin noch bei ihr gewesen, um eine seltsam riechende, aber wohltuende Salbe auf ihren Wunden zu verteilen und Anna musste zugeben, dass sie seitdem schon viel besser waren. Zu Talia hatte die Ärztin allerdings keine Neuigkeiten gehabt. Zumindest hatte sie sie ihr nicht verraten.

Es war das erste Mal gewesen, dass Anna bewusst gesehen hatte, wie jemand so litt. Vor allem jemand, den Anna so liebte als wäre sie ein Familienmitglied. Aber das hätte sie nicht so zeigen dürfen. Es war verboten, einander nahe zu stehen, was nach Annas Meinung vollkommen unsinnig war. Wenn man so viele Jahre auf einem so engen Raum zusammen lebte, war es doch nur natürlich, dass sich Freundschaften bildeten. Egal wie sehr die Betreuer es zu verhindern versuchten. Obwohl... Anna musste zugeben, dass Talia ihre erste wirkliche Freundin war. Sie kannte und mochte die anderen Mädchen zwar, aber sie hatte noch keiner von ihnen auch nur eine Träne nachgeweint, wenn sie das Camp verließen.

Als Anna nun um eine weitere Hausecke bog und hinter eine der Ruinen trat, wartete dort schon Ben auf sie. Der junge Mann war gewöhnlich zu spät an ihrem Treffpunkt, da es ihn augenscheinlich nicht so sehr danach dürstete, das Camp zu verlassen. Manchmal fragte Anna sich, ob er es vielleicht auch nur für sie tat und von sich selbst aus niemals auf die Idee gekommen wäre, durch das Loch im Zaun zu steigen. Zumindest war er ihres Wissens nach noch nie alleine in den Wald gegangen. Und auch wie Ben ihr jetzt entgegen blickte, zeigte Anna, dass er alles andere als begeistert war. So blieb sie einige Meter von ihm entfernt stehen und versuchte zu lächeln, was ihr aber vollkommen misslang, während sie zur Begrüßung ihre Handflächen vor ihr Gesicht hielt.

Wie es sich jetzt wohl anfühlen würde, sich jetzt in seinen Armen zu befinden?

Von ihm umarmt und getröstet zu werden, so wie Anna es schon in so vielen Büchern gelesen hatte?

„Wir brauchen das heute nicht zu machen." Bens Worte waren so emotionslos wie sein Blick. Manchmal fragte Anna sich, wie er so sein konnte, wenn um ihn herum das geschah, was nun einmal geschehen war. Er war doch dort gewesen und auch wenn er Talia nicht gekannt hatte, ihre Schreie und Schmerzen musste er doch gehört haben. Und ihre Wunden hatte er mit eigenen Augen gesehen. Wie konnte er da nur so ruhig bleiben?

„Nein", hörte Anna sich selbst sagen, „Ich glaube, das brauche ich jetzt." Ben nickte nur, als Anna an ihm vorbei ging und sich dem Loch in dem riesigen Zaun näherte. Kurz dachte sie darüber nach, ihn beim Vorbeigehen zu streifen, um vielleicht einmal, bevor er ging, seine Wärme zu spüren. Doch sie wusste, dass selbst wenn sie es gewollt hätte, Ben es niemals zugelassen hätte. Zu groß war sein Pflichtgefühl, ob er es nun wollte oder nicht. Kurz blieb Anna noch neben dem jungen Mann stehen und hob ihren Blick, um ihm in die Augen zu sehen. In seine wundervollen, dunkelblauen Augen, in denen sie sich immer zu verlieren drohte. Auch Ben schwieg, während er sie so ansah, als wären sie das Einzige auf dieser Welt, das ihm etwas bedeutete.

„Lass uns gehen. Wir haben nicht viel Zeit." Mit diesen Worten war es Ben, der sich in Bewegung setzte und vor Anna durch das Loch in dem riesigen Zaun kletterte. Anna hasste dieses Bauwerk. Es war fünf Meter hoch, aus dickem Draht und durch einen alten Generator an Strom angeschlossen. Und obwohl dieser Zaun dafür gedacht war, alles Unheil vom Camp fernzuhalten, fühlte Anna sich seit jeher nicht beschützt sondern eingesperrt. Deshalb hatte sie auch noch nie jemandem außer Ben von dem Loch darin erzählt. Die Betreuer hätten es sofort verschlossen und Anna hätte nie wieder den Wald betreten können. Und dabei liebte sie jeden Moment, den sie dort verbringen durfte. In ihr breitete sich dann sofort ein Gefühl aus, das so angenehm war, dass Anna es kaum beschreiben konnte. So war es auch heute, als sie die Bäume und Sträucher erblickte. Sie hörte die kleinen Tiere, die so schnell durch das Unterholz streiften, dass Anna nur selten einen Blick auf sie erhaschen konnte, roch die frische Waldluft und sah die vielen Farben, die die Natur ihr bot, und fühlte sich, als würden Ketten von ihr abfallen, die sie bisher gar nicht bemerkt hatte.

Just One Touch - Nur eine BerührungWo Geschichten leben. Entdecke jetzt