Ben schloss zu Anna auf und führte sie durch die Villa. Er konnte es noch nicht glauben, dass sie wirklich hier war. Nachdem sie aus dem Lager der Rotäugigen zurückgekehrt waren, hatte er sie sofort in eines der Gästezimmer bringen und reinigen lassen. Die Frauen hatten ihre Kopfwunde versorgt und ihr ein Nachthemd angezogen, damit sie endlich das Gestrüpp von ihrem Körper loswerden konnte. Egal was diese Wesen ihr angetan hatten, er würde sie dafür leiden lassen. Noel hatte ihm ins Gewissen geredet, nichts zu überstürzen und die Informationen zu nutzen, die Anna in dem Lager gesammelt haben könnte, und er hatte Recht. Anna konnte ihnen vielleicht helfen, diese Brut ein für alle Mal zu beseitigen, aber erst würde er ihr seine Heimat zeigen. Stumm führte er Anna nun die Treppe hinunter in das Erdgeschoss und von dort aus dem Herrenhaus nach draußen. Ben beobachtete, wie Anna alles in sich aufnahm und staunte. Natürlich. Sie war erst in einem ärmlichen Dorf und danach in einem Waldlager gewesen. Domilus musste ihr vorkommen wie das Paradies auf Erden. Ben atmete noch einmal tief ein, als sie auf die Straße traten und Richtung Haupttor liefen.
„Das ist Domilus." Er folge ihrem Blick zwischen den Ständen und Menschen hindurch, die gerade auf der Straße unterwegs waren und erinnerte sich daran, wie erstaunt er selbst noch vor einigen Monaten von dem Leben hier gewesen war. „Hier wurde ich geboren." Anna schwieg und Ben wusste, dass das hier seine einzige Chance war, alles wieder gerade zu rücken. Sie hatte gesehen, wie er ein Kind getötet hatte, und war entführt worden, nachdem er nicht die Kraft gehabt hatte, sie zu halten. Sie zu beschützen. Das würde ihm nie wieder passieren.
„Anna." Er stellte sich direkt vor sie und sah ihr tief in die Augen. Sie musste doch sehen, dass er noch der alte war. Der alte Ben, der nun eben Entscheidungen treffen musste, die für niemanden leicht waren. „Siehst du diese Menschen?" Die Blondine nickte, während ihr Blick zu einem der Stände fiel, an dem gerade eine Frau eine Kette gegen ein Stück Fleisch tauschte. „Sie fühlen sich hier sicher. Frei. Und das ist unser Verdienst. Der Verdienst der Wachmänner. Was wir tun müssen, ist hart und vielleicht auch manchmal nicht fair, aber es ist notwendig." Annas Augen wendeten sich Ben zu.
„Du hast ein Kind getötet. Ein Neugeborenes, das noch niemanden etwas getan hat." Ben seufzte.
„Darum geht es nicht."
„Er war unschuldig!" Anna wurde wütend, das konnte Ben sofort erkennen, aber sie musste es verstehen. Ansonsten konnte sie nicht bleiben. Das hatten Noel und sein Vater ihm mehr als deutlich zu verstehen gegeben.
„Was würdest du wählen?", fragte Ben leise, „Einen oder viele?"
„Was ist das denn für eine Frage?", zischte Anna auf.
„Eine ganz einfache. Also?" Er sah, wie die Blondine nachdachte.
„Viele?", fragte sie dann schließlich. Ben lächelte.
„Genau das habe ich auch getan." Er sah die Frage in ihrem Blick, bevor sie sie aussprechen konnte.
„Unsere Vorfahren haben uns vieles hinterlassen, was wir nicht mehr ändern können. Aber wir arbeiten daran. Eines davon ist die Gesundheit der Menschen. Anna, diese Menschen hier können nur so unbeschwert sein und sich sicher fühlen, weil wir Wachmänner dafür sorgen. Wir können nicht zulassen, dass das Blut weiter verunreinigt wird und irgendwann nur noch Wesen wie die Rotäugigen geboren werden oder sie irgendwann sogar gar nicht mehr lebensfähig sind. Das sind wir unseren Kindern und Kindeskindern doch schuldig, oder nicht? Dafür zu sorgen, dass sie gesund und unbeschwert aufwachsen können."„Aber die Schamee sind auch nur Menschen." Annas Miene war hart. „Sie haben es nicht verdient zu sterben." Ben musste seine Wut zurückhalten. Wenn er jetzt die Fassung verlor, würde Anna ihm gar nichts mehr glauben. Er konnte sie nur mit Vernunft überzeugen. Zumindest hoffte er das.
„Zumindest ein Teil von ihnen. Aber sie sind nicht zur Gänze Menschen und wenn wir ihnen zu leben gestatten, gefährden wir damit alle anderen. Einer oder viele, erinnerst du dich? Das ist genau die Frage."
„Aber warum solltet ihr bestimmen dürfen, wer lebt und wer sterben muss?" Ben seufzte.
„Das ist keine Entscheidung von uns, sondern von der Evolution. Wir werden nie wieder zu alter Stärke finden, wenn wir unsere Schwächen nicht hinter uns lassen. Anna, diese Wesen..."
„Menschen!" Ben ließ sich nicht beirren. Er sah, dass seine Worte etwas in Anna auslösten und daran würde er festhalten. Zumindest die Vernunft musste sie doch überzeugen.
„Diese Wesen haben doch gar kein wirkliches Leben. Sie sind entstellt und verkrüppelt, sodass sie niemals ein Teil der Gesellschaft sein können. Ich sehe ein, dass es schwieriger für alle ist, weil sie sich nun wie eine Art Rudel zusammengerottet haben, aber das Problem werden wir lösen."
„Sie sind wie du und ich, Ben. Ganz genauso. Mit den gleichen Rechten." Er sah das Flehen in Annas Blick, doch er ignorierte es. Ihr Widerstand brach. Das konnte er fühlen.
„Genau das sind sie eben nicht. Sie sind nicht wie du und ich, auch wenn es vielleicht den Anschein hatte, als du bei ihnen warst. Im Wald haben sie unsere Männer getötet und sie haben in diesen Dörfern Unschuldige verletzt oder ihnen gar das Leben genommen, wenn sie ihnen im Weg standen."
„Sie wollten bloß ihresgleichen beschützen", flüsterte Anna. Ben trat näher an sie und sah in ihre unergründlich blauen Augen.
„Genau das wollen wir auch. Anna, für uns ist das Töten keine Wahl sondern ein Muss. Du kennst mich nun schon so lange und du weißt, dass ich so etwas niemals zum Vergnügen tun würde. Ich tue es, um die zu beschützen, die ich liebe. Und die Stadt, in die ich gehöre." Er sah, wie Annas Blick wieder über die Menschen streifte, die in den Straßen standen, sich unterhielten und lachten. Alles hier wirkte so friedlich und freundlich. Das musste Anna doch sehen. Und verstehen, dass es keinen anderen Weg gab als diesen.
„Wieso könnt ihr keinen friedlichen Weg finden?", murmelte Anna plötzlich, „Wieso müsst ihr einander töten?"
„Diese Wesen wollen nicht reden, Anna. Sie wollen, dass wir diejenigen sind, die sich in den Wäldern verkriechen. Die Welt zurückerobern. Aber das können wir nicht zulassen, denn dann würden wir alles verlieren, was unsere Vorfahren seit den Bunkern aufgebaut haben."
„Das ist nicht gerecht." Ben sah, wie Tränen in die Augen der Blondine traten. Er seufzte.
„Nein, aber das ist die Welt nun einmal auch nicht. Aber wir arbeiten daran." Anna seufzte laut auf und Ben sah, wie ihre Haltung sich langsam entkrampfte. Er konnte sich wohl kaum vorstellen, wie es jetzt in der Blondine aussehen mochte. In kürzester Zeit hatte sie so viel erleben müssen.
„Ich ... ich weiß nicht mehr, was ich denken soll", hörte Ben die Blondine flüstern und er wusste, dass er die richtigen Worte gefunden hatte.
„Dann sieh es dir einfach an", erwiderte er schulterzuckend, „Und entscheide dann. Ich werde dir Domilus zeigen und alles erklären, was du willst." Anna nickte und Ben meinte, ein Lächeln in ihren Mundwinkeln aufblitzen zu sehen. Innerlich atmete er erleichtert auf. Er wusste, dass er sich darauf verlassen konnte, dass Anna ihn nicht anlog. Und wenn sie erst einmal alles gesehen und verstanden hatte, wie sicher und friedvoll Domilus war, würde sie nie wieder von hier weg wollen. Vor allem musste er sie nun auch nicht mehr von hier fortschicken. Noel und sein Vater waren beide mehr als deutlich gewesen. Sollte Anna sich auf die Seite der Rotäugigen geschlagen haben, würde sie auch wie eine behandelt werden. Ben war froh, dass es soweit nun nicht kommen würde, denn wenn er ehrlich zu sich selbst war, konnte er nicht sagen, ob er Anna dann noch vor sich selbst hätte beschützen können. Anna gehörte hierher und das würde sie auch einsehen, dessen war Ben sich voll und ganz sicher.
Spätestens nach morgen Abend.
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Just One Touch - Nur eine Berührung
ФэнтезиRote Augen. Als Anna diese zum ersten Mal erblickt, weiß sie, dass das Leben, wie sie es kennt, vorbei ist. Während sie bis dahin sorglos in einem der vielen Camps außerhalb der Gesellschaft leben konnte, muss sie plötzlich lernen, was das wahre Leb...