Anna seufzte laut auf und ließ sich ins Gras fallen. Zwei Wochen war sie nun schon hier im Lager der Schamee und bereits dreimal hatten sie ihren Standort verändert. Sie waren wie Nomaden, die niemals ein Zuhause finden konnten. Anna hatte sich hier gut eingelebt und mittlerweile auch herausgefunden, wo und wie man die besten Beeren und Kräuter fand, die man auch nutzen konnte. Diese Menschen wussten so viel über den Wald und dessen Bewohner, dass sie jeden Tag Neues von ihnen lernen konnte. Mittlerweile fühlte sie sich auch nicht mehr wie eine Gefangene, auch wenn sie das Lager noch immer nicht ohne Kean oder einen seiner Anhänger verlassen durfte. Selbst wenn sie Kräuter sammelte, war jemand bei ihr. Vertrauen konnten ihr die Rotäugigen wohl nach wie vor nicht. Anna hingegen hatte die Angst vollkommen verloren. Diese Menschen waren genauso wie die, die sie bereits kennen gelernt hatte. Sie hatten Familien – Kinder, die sie nicht fortschicken mussten -, Freunde und Arbeit. Aufgaben, die sie erfüllten. Sie waren so normal und doch gejagt wegen ihrer Andersartigkeit. Seufzend setzte Anna sich auf und beobachtete die Lichtung vor ihr. Kean stand dort mit einigen jüngeren Männern und trainierte den Schwertkampf. Er hatte ihr erklärt, dass seine Männer von Schusswaffen nicht viel hielten. Außerdem waren sie nicht in der Lage, sie herzustellen, sodass sie mit den Schwertern geübter waren. Schusswaffen nutzten sie nur, wenn sie sie den Wachmännern abnahmen und nutzen mussten.
„Was starrst du so?" Erschrocken fuhr Anna herum und sah zu Talia, die sich neben sie gestellt hatte. Es war einfach unglaublich, wie stark die Dreizehnjährige plötzlich wirkte. Früher hatte man ihr den Trotz und die Verspieltheit sofort angesehen, jetzt allerdings wirkte sie plötzlich so erwachsen und das obwohl die Hälfte ihres Körpers vollkommen entstellt war. Annas Blick fuhr über die dunklen Brandmale an Keans Arm und Oberkörper. Sie standen für Kraft, Stärke und Treue. Zeichen, die die Schamee mit Stolz erfüllten, wenn sie sie von ihrem Volk verliehen bekamen.
„Ich denke nur nach", erwiderte Anna ehrlich. Sie lehnte sich nach vorne, legte ihre Unterarme auf ihren Knien ab und bettete ihr Kinn darauf. Die Schamee beendeten gerade ihr Training und verließen die Lichtung langsam. Sie lachten und schlugen sich spielerisch. Alles wirkte so normal und vertraut.
„Über einen Fluchtweg?" Talias Spott riss Anna aus ihren Gedanken. „Vergiss es." Die Blondine seufzte, wendete sich jedoch nicht um. Ihr Blick galt der Ferne.
„Nein, nicht über Flucht."
„Wieso? Im Verstecken bist du doch so gut." Bitterkeit schwang in Talias Stimme mit, sodass Anna nun doch ihren Kopf hob und der Dreizehnjährigen direkt in die Augen blickte.
„Ich wollte dir helfen", gestand sie ehrlich, woraufhin Talia bloß die Augen verdrehte. „Doch wie sollte ich dich noch erreichen, als der Regen auf dich niederprasselte. Agata hat mich aufgehalten."
„Einen echten Freund kann niemand aufhalten."
„Ein echter Freund verlangt von dir nicht dein Leben." Anna sah Talia fest in die Augen und spürte, wie der Widerstand des Mädchens langsam in sich zusammenbrach. Ihr Blick wurde weicher, als sie plötzlich auf ihre Knie sank und sich neben Anna ins Gras fallen ließ. Diese lächelte. Im Grunde war Talia wohl doch noch ein Kind.
„Kean hat mir erzählt, dass du ihn aufhalten wolltest?" Talia begann zu kichern. Es war seltsam, wie schnell ihre Stimmung sich änderte. Aber Anna genoss es, dass sie nicht mehr wütend auf sie war.
„Ein miserabler Versuch", gestand sie lächelnd. Talia nickte.
„Das stimmt wohl. Ansonsten wäre ich nicht hier." Ihr Gesicht wurde ernst. „Aber ich bin froh, dass ich es bin." Die letzten Worte flüsterte sie nur. Intuitiv drehte Anna sich zu ihr um, legte ihre Arme um Talia und zog die Dreizehnjährige an sich heran. Sie war wirklich froh, dass sie sich wieder vertragen hatten. Die Kleine war damals ein wichtiger Teil ihres Lebens gewesen und eine Person, die sie auf keinen Fall verlieren wollte. Nicht noch einmal.
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Just One Touch - Nur eine Berührung
FantasyRote Augen. Als Anna diese zum ersten Mal erblickt, weiß sie, dass das Leben, wie sie es kennt, vorbei ist. Während sie bis dahin sorglos in einem der vielen Camps außerhalb der Gesellschaft leben konnte, muss sie plötzlich lernen, was das wahre Leb...