Täglicher Wahnsinn

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Lächelnd öffnete Marissa die Fenster der Backstube und atmete tief durch. Heute war ein guter Tag gewesen, wagte sie zu sagen, auch wenn es erst gegen vier Uhr nachmittags war. Das Dorf war für heute versorgt und alles für den kommenden Tag vorbereitet. Jetzt musste sie nur noch die Arbeitsflächen säubern und kurz durchkehren. 

Gut gelaunt schnappte sie sich den Besen und fing an, schwungvoll über den Boden zu fegen. Da sie sich sicher sein konnte, dass ihr niemand zu sah, begann sie, ein wenig schief vor sich hin zu singen und zwischen den Schränken und Öfen hin und her zu tanzen. Es war einer der wenigen Momente, in denen sie so richtig abschalten konnte. Einfach sie selbst sein konnte. Die ganze Zeit machte sie sich immerzu Gedanken darüber, wie sie am Besten ihren Vater helfen konnte und wie ihr Bruder zu dem Mann heranwachsen könnte, auf den ihre Mutter stolz sein könnte, wäre sie noch unter ihnen. Es war bei weitem nicht leicht ohne sie. Doch sie gab sich alle Mühe. Ebenso ihr Vater. Doch ihr Bruder... er schien nicht zu wissen, wie wichtig es war, dass sie alle ihre Aufgabe erfüllten. Marissa konnte nur hoffen, dass er eines, hoffentlich nicht allzu fernen, Tages vernünftig werden würde.

"Bravo! Bravo! Zugabe!", erklang es laut lachend von der Tür. Wenn man vom Teufel spricht, dachte sie und drehte sich zu Alejo um. 

"Oh, sieh an, wer uns mit seiner Anwesenheit beehrt.", knurrte sie und fegte weiter. "Wir hätten deine Hilfe wirklich gebrauchen können."

Ihr Bruder zuckte nur mit den Schultern und trat ein. Doch anstatt ihr zu helfen, lehnte er sich an dem Tisch, der in der Mitte des Raumes stand, an. "Ihr werdet schon ohne mich klar kommen.", sagte er und spielte mit dem Finger in einem kleinen Haufen Mehl herum, der sich noch auf der Arbeitsfläche befand. 

Marissa blieb stehen und sah ihn stirnrunzelnd an. "Was meinst du damit?", fragte sie skeptisch, den Besenstiel mit einer Hand fest umklammert.

Wieder zuckte er mit den Schultern. "Der Weg aus dem Encanto ist frei. Mir steht die ganze Welt offen."

Ungläubig blickte sie ihn an und spürte Wut in sie aufsteigen. "Das kann nicht dein Ernst sein."

"Doch.", entgegnete er und wischte sich den mehligen Finger an der Hose ab. "Papá meint, es ist ok."

"Papá würde auch nie etwas sagen, von dem er weißt, dass es dich verletzen würde.", zischte sie. Natürlich wusste sie tief in ihrem Inneren, dass er sein eigenes Leben finden musste, doch war sie persönlich der Meinung, dass dieses sich genau hier befand. In der Bäckerei ihrer Eltern, die sie beide eines Tages übernehmen sollten. Und nun wollte er sie einfach im Stich lassen? Es traf sie sehr, auch wenn sie es nie zugeben würde. "Auch, wenn es totaler Mist ist, was du vor hast."

Böse sah Alejo sie an, doch er sagte nichts dazu. Wütend wischte er den kleinen Haufen Mehl, mit dem er eben noch gespielt hatte, vom Tisch. Während sie dabei zu sah, wie sich der feine weiße Staub auf dem Boden verteilte, den sie eben sauber gefegt hatte, rauschte er auch schon nach draußen.

Genervt schloss sie die Augen. Warum konnte er nicht einfach vernünftig sein.

Während seine Schritte sich immer weiter entfernten, fing sie an, das angerichtete Chaos zu beseitigen. Innerlich spielte sie mit dem Gedanken, ihm den Besen um die Ohren zu hauen und dafür zu sorgen, dass er den Mist selbst weg machte. Doch das würde sie natürlich nicht tun. Aber träumen durfte man ja noch. 

"Hey, Ratoncito." Ihr Vater kam herein und kratzte sich verwirrt am Kopf. "Weißt du, was mit Alejo ist?"

Marissa zuckte nur mit den Schultern und ließ die Frage unbeantwortet, fegte einfach weiter. Ihr Papá hatte bei weitem schon genug im Kopf, als sich auch noch mit ihren Streitereien zu befassen. 

"Aber gut, dass du noch hier bist. Ich wollte ohnehin mit dir reden.", fuhr er dann fort, als sie nichts sagte. "Die Madrigals geben heute ein kleines Grillfest und haben darum gebeten, dass das ganze Dorf dabei ist. Wie es scheint, hat Señora Madrigal etwas Wichtiges zu verkünden."

Marissa stellte den Besen in die Ecke und schnappte sich ein sauberes Tuch, um die Arbeitsflächen zu reinigen. "Gut, ich bleibe gerne bei Alejo und passe auf, dass er nicht wieder irgendeinen Mist anstellt, bis du zurück bist."

Ihr Vater aber schüttelte nur den Kopf. "Dein Bruder ist alt genug, um auf sich selbst auf zu passen. Vertrau ihm einfach." Seine Tochter erwiderte darauf nichts, sie musste ihm ja nicht jedes Mal unter die Nase reiben, dass sie anders darüber dachte. "Mir selbst geht es heute nicht so gut, daher würde ich mich freuen, wenn du für mich hin gehen würdest.", fuhr er schließlich fort und erntete einen überraschten Blick seiner Tochter.

"Papá, du weißt doch, dass sowas für mich nichts ist.", murmelte sie und spülte das Tuch aus, als sie fertig war. 

Der ältere Mann ging zu ihr und legte ihr liebevoll eine Hand auf die Schulter. "Mi amor, du kannst dich nicht immer von der Gemeinschaft fern halten. Wir sind alle aufeinander angewiesen.", sagte er und wusste genau, dass sie ihm zu liebe nicht länger nein sagen konnte. Sie seufzte und nickte. "Ok, Papá.", stimmte sie ihm zu und gab ihm einen kleinen Kuss auf die Wange. "Aber nur heute."

Damit schien er sich erst einmal zufrieden zu geben und drückte sie kurz an sich. Von draußen erklangen laute Rufe und Marissa runzelte die Stirn. Was war da denn schon wieder los? Bevor ihr Vater sie noch zu irgendwelchen anderen Sachen überreden konnte, sagte sie: "Ich werde mal zum Mühle vor gehen und schauen, ob das Maismehl für morgen vielleicht schon fertig ist." Rasch drückte sie ihm nochmal einen Kuss auf die Wange und eilte zur Tür.

Hätte sie das mal lieber nicht gemacht. Doch noch ehe sie reagieren konnte, wurde die kurvige junge Frau auch schon umgerannt. 

"Uff." Schmerzhaft landete sie auf ihrem Hinterteil und konnte den zwei Isabelas nur hinterher schauen, die weiter rannten, als wäre nichts geschehen. Irritiert schüttelte sie den Kopf. Zwei?, fragte sie sich selbst verwirrt, doch die beiden waren schon hinter dem nächsten Haus verschwunden. 

Ein wenig umständlich stand sie auf und blickte an sich herab. Geschockt realisierte sie eine Art buntes Pulver, welches sich auf ihrer Schürze verteilt hatte. Na klasse. Eigentlich hatte sie nicht vor gehabt, heute noch mehr zu Arbeiten, indem sie sich jetzt noch zum Waschen hinstellen musste. Kurz klopfte sie sich das Gröbste ab, ehe sie zur Mühle los stapfte.

Nuestro milagro, Unser Wunder (Camilo xOC)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt