Besuch

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POV Camilo

Nachdem Marissa aus dem Haus verschwunden war und seine Mamá sich halbwegs wieder beruhigt hatte, verließ Camilo die Küche. Seit dem Abend der Hochzeit seiner Schwester Dolores machte er sich große Vorwürfe. 

Immer wieder dachte er an Marissa und daran, dass es falsch gewesen ist, sie einfach so zu küssen. Er konnte sich einfach keinen Reim darauf machen, was in dem Moment in ihn gefahren ist. Es war einfach gesehen, er musste es einfach tun, wollte ihr beweisen, dass es absolut nichts war, worüber man sich jahrelang den Kopf zerbrechen musste. So wie sie es anscheinend schon seit ihrer Kindheit tat. Wenn er ehrlich war, hatte er ihren allerersten Kuss schon fast vergessen gehabt. Hatte er doch schließlich nichts bedeutet. Doch an dem Abend... es war anders gewesen. Ließ ihn jetzt einfach nicht los. Natürlich, sie hatte es nicht erwidert und ihm sogar eine Ohrfeige verpasst, wer konnte es ihr verdenken, doch irgendwas hatte es, zumindest in ihm ausgelöst. Oder er bildete es sich einfach nur ein. Wer wusste das schon.

Auf jeden Fall nahm er sich vor, sich noch einmal vernünftig bei ihr für sein Verhalten zu entschuldigen. Auch wenn er sich denken konnte, dass sie davon nichts hören wollen würde.

Zwei Stufen auf einmal nehmend, eilte er die Treppen hinauf, bis er schließlich vor Brunos Tür stand. Kurz klopfte er an und als ein knappen "Herein", gebrummt wurde, trat er ein. Seit Sofia hielt wohnte, war er bereits etliche Male hier gewesen. Doch nun war es irgendwie ein anderes Gefühl. Er machte sich Sorgen um seine Freundin und ihr ungeborenes Kind. Auch, wenn er wusste, dass es ihnen eigentlich gut ging. Das, was Manuel Ruiz ihr angetan hatte, war nicht ohne gewesen. Er erinnerte sich daran,  wie sie in dem kleinen Kinderzimmer auf dem Boden gelegen hatte. Ihr Blut, welches überall klebte. Ihr leises Wimmern. Noch jetzt zerriss es ihm sein Herz, wenn er daran dachte.

Etwas langsamer ging er die steinigen Stufen hinauf zu dem Schlafzimmer des Ehepaares. Seine beste Freundin und mittlerweile Tante lag in dem recht großen Bett in der Mitte des Raumes. Es schien, als hätte die Familie ihr noch 10 Kissen und 5 Decken mehr gebracht, damit sie es auch ja bequem hatte. Die kleine schmale Frau verschwand fast in dem Haufen. 

"Hey...", hauchte Sofia und versuchte zu lächeln, als sie ihn sah. Er kam nicht umhin, zu bemerken, wie müde sie aussah. 

"Hey.", entgegnete der Lockenkopf und setzte sich auf die Bettkante. "Wo ist denn Tío?", fragte er, als er diesen nicht sehen konnte.

"In seiner Höhle.", meinte seine neue Tante und ihr Lächeln wich aus ihrem Gesicht. "Er nutzt jede freie Minute und ruft eine Vision nach der anderen ab." Sie lachte freudlos auf, doch man konnte dennoch die Liebe in ihren Augen sehen, die sie für den älteren Madrigal empfand. "Er macht sich solche Sorgen."

"Verständlich.", murmelte Camilo und nahm ihre Hand, die auf der Decke lag. "Wie geht es dir?"

"Schon viel besser.", sagte sie und drückte seine Hand kurz. "Alle kümmern sich so gut um uns."

"Du gehörst zur Familie.", erwiderte Camilo, als wäre das die Antwort auf alles. Aber es war auch nicht gelogen. Wer zur Familie Madrigal gehörte, der musste sich mittlerweile darauf einstellen, in allen Lebenslagen umsorgt zu werden. Das war nicht immer so, aber seit dem Fall und dem anschließenden Neubau der Casita, hatten sich viele Dinge verändert.

"Jetzt erzähl, was habe ich die letzten Tage verpasst?", fragte sie und er konnte die Hoffnung raus hören, dass es sie ein wenig Ablenken könnte. Kurz dachte er darüber nach, ihr von Manuel zu erzählen, doch entschied sich schließlich dagegen. Das sollte Bruno lieber übernehmen. Also überlegte er einen Moment, was er ihr sonst noch sagen könnte.

"Ich habe Marissa geküsst.", kam es aus seinem Mund, noch ehe er es aufhalten konnte. Sofort verfluchte er sich selbst dafür. Warum konnte er nicht seine Klappe halten oder einfach etwas anderes sagen? 

Sofia riss die Augen auf und setzte sich, breit grinsend, auf. "Du hast WAS???"

"He, schön langsam.", meinte er und versuchte sie sanft wieder aufs Kissen zu drücken. Doch sie schob seine Hände nur beiseite. 

"Erzähl mir alles.", wollte sie wissen und starrte ihn mit freudig glänzenden Augen an. Innerlich seufzte er. Machte sie sich etwa Hoffnungen, dass aus den Beiden mehr geworden ist, als alle denken könnten? Kurz kam ihm der "Was-wäre-wenn"-Gedanke, doch so schnell wie er kam, schob er ihn auch schon wieder weg.

Camilo verdrehte die Augen. "Nicht so wie du denkst... denk ich." Er überlegte kurz, wie er es am besten ausdrücken sollte, doch vermutlich gab es keine bessere Schilderung, als frei raus. "Am Abend der Hochzeit. Wir haben getanzt und dann hab ich sie gefragt, wie es kommen konnte, dass wir jetzt da sind, wo wir sind. Und dann hat sie von dem Kuss gesprochen und  ich wollte ihr beweisen, dass es ja keine Bedeutung hatte. Naja und dann hat sie mir eine gescheuert.", rasselte er herunter und atmete dann einmal kurz durch.

Verwirrt schüttelte die Schwarzhaarige den Kopf. "Von welchem Kuss..:?", fragte sie irritiert.

Camilo seufzte. "Als wir fast noch Kinder waren, haben wir uns mal geküsst. Ich wollte einfach wissen, wie das so ist... Naja aber anscheinend hatte sie das damals ein wenig ernster aufgefasst-", fing er an, wurde dann aber unterbrochen, als ihre flache Hand schwungvoll seinen Hinterkopf traf.

"Du bist ein Idiot, Camilo Madrigal.", meinte Sofia und schüttelte den Kopf. Jetzt ergab es für sie alles einen Sinn und sie empfand Mitgefühl für die Jüngere.

"Ja, das höre ich öfter.", murmelte er und rieb sich die Stelle, die sie getroffen hatte. Es tat nicht weh, brachte ihn aber dazu, ein wenig mehr über alles nach zu denken.

Vielleicht hatte Marissa recht und er verhielt sich wirklich wie ein Arsch. Zumindest was sie betraf. Nur es war einfach... Sie waren von klein auf befreundet gewesen und er hatte sie nie wirklich als weibliches Wesen betrachtet. Für ihn war sie eher ein Freund, ein Kumpel, gewesen. Nicht jemand, der eventuell mehr darin sehen könnte, als er. 

Wie dumm er doch gewesen ist. Es anscheinend immer noch war. 




Nuestro milagro, Unser Wunder (Camilo xOC)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt