Frischer Wind

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– Viele Monate davor –

Es war verdammt kalt in Velaris. Der seichte Schneefall hatte bereits die gesamte Stadt bepudert und würde wohl auch nicht so bald aufhören. Die drei Illyrianer und ich waren zwar durch das harte Training gewöhnt, diesen extremen Temperaturen die Stirn zu bieten, wobei ich es dennoch vorzog, mich mit einer heißen Schokolade auf dem Sofa zu verkriechen. Zudem waren sie weitaus mehr daran gewöhnt als ich, da sie sich freiwillig diesem Wetter aussetzten und darum wagten, wer am längsten dieser Kälte auf ihrer täglichen Patrouille standhalten konnte. Ich habe keine Ahnung, wie Sie entscheiden, wer gewinnt. Wahrscheinlich, wer ohne Frostbeulen davonkommt.
Doch ihr wettgeeifere hielt mich nicht davon ab, durch die Straßen von Velaris zu schlendern und die klare, kalte Luft einzuatmen. Zwar hatte ich mit Magie einen Kokon um mich errichtet, damit die Kälte mir nicht sofort die Finger abfror, wenn ich sie auch nur für ein paar Sekunden aus den Taschen zog, aber es war immer noch kalt genug.
In der Stadt herrschte ein geschäftliches Treiben. Die Bewohner schmückten ihre Häuser, fegten den Schnee vor ihren Haustüren weg, tümmelten sich in den Geschäften und auf dem Markt. Musiker spielten eine winterliche Melodie, die durch die Straßen wehte. Einige hielten dampfende Tassen in den Händen und betratchten die Marktstände, wo man allerlei Dinge kaufen konnte. Neben vielen Schmuck- und Kleidungsständen gab es auch diverse Stände, an denen Stoffe, Kunstwerke und Essen verkauft wurden. Meinen Einkaufsbummel mit Mor hatte ich bereits hinter mir.
Ich gab gerne zu, dass ich mich von glänzenden Dingen und vor allem von schönem Schmuck angezogen fühlte, wie eine Motte vom Licht. Daher hatte ich fast eine Stunde an den vielen Schmuckständen vertrödelt, bis Mor mich irgendwann weggezerrt und gebrummt hatte, dass ich beinahe schlimmer als Amren sei.
Wir hatten unter anderem die ersten Geschenke für die Wintersonnenwende gekauft, was in mir mehr Gefühle ausgelöst hatte, als ich erwartet hatte. Ich war zwar überglücklich, wieder mit ihnen feiern zu können, aber ich war so lange im Gefängnis eingesperrt gewesen, dass ich die anderen schlechter einschätzen konnte.
Zwei Jahrhunderte veränderten auch uns Fae. Daher fiel es mir schwer, Geschenke auszusuchen, die ihnen gefallen könnten. Wäre Mor nicht die ganze Zeit an meiner Seite gewesen, hätte ich Azriel beinahe flauschige, blaue Socken gekauft, in die ein Muster eingewebt war, das sehr an männliche Genitalien erinnerte. Es waren aber in Wirklichkeit Rentiere. Mor hat mich unter Tränen angefleht, sie wirklich zu kaufen, und hat sogar versucht, mich zu bestechen. Aber da ich wusste, dass Azriel diese Socken wahrscheinlich aus Höflichkeit tragen würde – und Mor das auch wusste – habe ich sie schnell fallen gelassen und nach etwas anderem gesucht. Rhysand und Cassian hätten ihn Jahrzehnte damit aufgezogen, und auch wenn dieser Gedanke verlockend war, wie der Schattensänger mit diesen Socken herumlief, konnte ich ihm das auf keinen Fall antun.
Für Cassian hingegen habe ich die gleichen Socken in Rot gekauft.

Jetzt wanderte ich allein an der Promenade am Fluss entlang und hatte endlich Zeit, die Fortschritte der Reparaturen zu begutachten. Durch die vielen Hilfsorganisationen und eine beachtliche Spende des High Lords konnten beinahe alle Gebäude gerettet werden. Nur wenige wurden vom Feuer komplett zerstört.
Die vielen Lichterketten, die mit Faelichtern ausgestattet waren, sowie die Straßenlaternen und die Dekoration aus Tannengrün kaschieren die dunklen Flecke, die zuvor ein Haus ausgefüllt hatte.
Ein dunkler, beflügelter Schatten landete neben mir und ich blieb stehen.
»Ich glaube, das ist geschummelt«, meinte Cassian und deutete auf meinen Kokon, der in der Sonne leicht schimmerte.
„Nicht jeder ist besessen davon, sich den Hintern abfrieren zu lassen, um sein eigenes Ego zu streicheln", schoss ich zurück. Cassian Grinste breit.
„Wir Illyrianer sind für dieses Wetter geboren", erwiderte er hochmütig. „Und daraus eine Wette zu machen ist das Beste daran", fügte er hinzu.
Statt einer Antwort auf diese Albernheit hackte ich mich bei ihm unter und übertrug dabei den Kokon auch auf ihn.
„Oh okay, das ist... angenehmer", sagte er erstaunt. Ich lachte.
»Verweichtliche Illyrianer.«
„Hast du was gesagt?"
„Nein, alles gut. Da du als Erster aufgetaucht bist, nehme ich an, dass du als Erstes Verloren hast."
„Eigentlich war es Azriel. Irgendwelche Spionage angelegenheiten. Rhysand hat gewonnen."
Ich fragte mich, wie man bei so einer Wette überhaupt einen Gewinner ausmachen konnte.
„Ich werde es ihm bei der Schneeballschlacht wieder heimzahlen, darauf kann er sich verlassen", sagte er und schlug mit der Faust in seine Hand.
„Schön, dass ihr das immer noch macht", sagte ich und meinte es ernst. Diese Tradition war so albern, dass sie schon wieder gut war.
Ob sie es weitergeführt hatten, als Rhysand unter dem Berg gefangen war? Ich wollte Cassian danach fragen, doch tat es nicht. Das würde nur wieder alte Wunden aufreißen, und dieser Tag war zu schön, um ihn mit Schatten der Vergangenheit zu füllen.
„Falls ihr diese kindische Tradition zu einer richtigen Herausforderung machen wollt, solltet ihr eure „Frauen" miteinbeziehen", sagte ich stattdessen.
„Diese Schlacht wird seit Jahrhunderten geführt, das würdet ihr nur unterbrechen.Wir brauchen diesen Konkurrenzkampf."
Ich zog einen Schmollmund.
„Außerdem wäre es nur halb so spaßig, wenn der Kampf schon nach fünf Minuten endet", fügte er versöhnlich hinzu.
„Ihr wollt doch nur zusammen nackt in der Schwitzhütte sitzen und eure Flügelspannweite vergleichen."
„Das ist ein Teil davon, ja", gab er kichernd zu.
„Und wenn wir dazwischen funken, wäre es nur halb so männlich, nicht wahr?"
„Allerdings", grinste er.
Ich verdrehte die Augen.
Das einzig Gute daran, zweihundert Jahre als verschollen zu gelten, ist, dass kaum jemand in Velaris sich an mich erinnert. Oder weiß, dass ich zur Familie ihres High Lords gehöre.
Zwar gab es immer noch leises Geflüster über die Sonnenkriegerin, aber kaum jemand wusste, dass ich das war, geschweige denn dass ich durch ihre Straßen schlenderte.
Das zahlte sich insoweit als Vorteil aus, dass viele gut aussehende High-Fae mehr als interessiert daran sind, mich von Cassian abzulenken. Seelengefährte hin oder her: Es bereitete mir immer noch Freude, ihn eifersüchtig zu machen, wenn er mir ein wenig zu viel auf die Nerven gegangen ist. Und er machte es mir so leicht, dass es beinahe schon wieder langweilig war. Aber nur beinahe.
Ich zwinkerte einer wunderschönen High-Fae zu, die gerade Tannenzweige an den Laternen anbrachte, aber offensichtlich von ihrer Arbeit abgelenkt wurde, als wir vorbeischlenderten. Dabei lag ihr Blick auf mir, nicht auf Cassian.
Ihre Haare fielen ihr in hellbraunen Locken auf die Schulter und ihre Augen glitzerten wie Honigtropfen.
Es war kein Geheimnis, dass ich mich zu Frauen und Männern hingezogen fühlte.
Cassian bemerkte es und grinste schelmisch.
„Wenn du ein wenig Abwechslung in unser Bett bringen möchtest, habe ich nichts dagegen", sagte er. Mein Kopf fuhr zu ihm herum und in meinen Augen glühte meine Magie.
„Ich werde dich mit niemandem teilen", sagte ich sofort.
Sein Kopf neigte sich zu meinem Ohr.
„Eifersucht steht dir gut, Veena", raunte er.
Seine Stimme löste eine Gänsehaut aus und ich lächelte, als ich mich erinnerte, dass ich ihm diese Worte einmal weitaus unhöflicher an den Kopf geworfen habe. Das machte mich irgendwie so glücklich, dass mein Bauch anfing zu kribbeln. Sichtlich zufrieden mit der Reaktion, die er mit seinen Worten ausgelöst hatte, richtete er sich wieder auf.

Während wir weiter durch die Straßen trotteten, die mit leuchtenden Girlanden geschmückt waren, entging mir nicht, dass er die ganze Zeit seine rechte Seite schonte.
„Ich hab dir gesagt, da du dich schonen sollst", kommentierte ich, als er schnaufte.
»Ist nur ein Kratzer.«
Ich war alles andere als überzeugt, vor allem weil ich gesehen hatte, wie seine Wunde aussah. Doch ich würde ihn sicher nicht bemitleiden, das hatte er sich alles selbst zuzuschreiben.
„Dieser Kratzer lässt dich aber immer noch langsamer gehen", bemerkte ich.
„Wo ist nur deine hinreißende Besorgnis geblieben?", jammerte er.
„Wenn du verhätschelt werden willst, hast du die falsche Seelengefährtin abbekommen."
„Oh, ich denke, die große Mutter wusste genau, was sie tut."
„Sie musste allerdings sturzbesoffen gewesen sein."
Cassians tiefes Lachen erfreute mein Herz.
„Dann denkst du nicht, dass wir perfekt zusammenpassen?", fragte er neckerisch. Ich schnaufte.
„Wenn du tatsächlich von perfekt sprichst, warst du ein paar Jahrhunderte zu lange ledig."
Er legte sich entrüstet eine Hand auf die Brust.
„Und ich bin davon ausgegangen, wir wären füreinander geschaffen."
„Und dennoch hast du 400 Jahre gebraucht, um mich rumzukriegen. Meines Erachtens ist das ziemlich traurig."
»Du hast es mir ja auch nicht gerade einfach gemacht.«
„Und du hast dich alles andere als geschickt angestellt. Muss ich dich daran erinnern, dass du mich einmal beim Fliegen fallen gelassen hast, um mich zu überreden, mit dir was trinken zu gehen?"
"Aber es hat funktioniert."
„Ich wäre fast auf dem Boden aufgeschlagen", erinnerte ich ihn fassungslos.
„Dass du so lange für eine Antwort gebraucht hast, ist nicht meine Schuld", konterte er sofort. Ich warf ihm einen genervten und gleichzeitig amüsierten Seitenblick zu.
„Außerdem hast du mich daraufhin versetzt, also haben wir beide an diesem Tag gelitten."
„Und das hat dich überrascht?", kicherte ich. „Ich dachte, die saftige Standpauke von Rhys hätte dir genügt. Die wie vielte war das zu dem Zeitpunkt?"
„Jedenfalls nicht die Letzte", grinste er.
Ich musste lachen, und ehe ich mich versah, wirbelte er mich herum und seine Hände legten sich auf meine Taille. Seine Lippen waren so nah an meinen, dass ich spüren konnte, wie sie sich bewegten, als er sagte: „Wir sind pures Chaos, du und ich, aber du fesselst mich auf eine Art und Weise, wie es keine Seele jemals tun wird."
Sein Blick hielt mich gefangen, als er fortfuhr. „Ich danke der großen Mutter jeden Tag dafür, dass ich an deiner Seite sein darf."
Seine Worte wärmten mein Herz auf eine Weise, die ich nicht beschreiben konnte. Eigentlich wollte ich etwas Ähnliches erwidern, doch ich war noch nie gut darin gewesen, meine Gefühle auf die Art zu äußern, die ihm so leichtfiel. Vielleicht würde ich irgendwann in der Lage sein, auch mit meinen Worten solche Gefühle in ihm auszulösen. Aber bis dahin:
„Deine Gebete an die Große Mutter kannst du gerne direkt an mich richten. Am besten lässt du deine Zunge die meiste Arbeit übernehmen, dann hätten wir beide was davon."
Er lachte auf und zwickte mir in die Seite. Mir entfuhr ein quitschender Laut, der ihn nur noch mehr lachen ließ, und ich stimmte mit ein.
Er neigte seinen Kopf und küsste mich. Unsere Lippen schienen miteinander zu verschmelzen, und sein Kuss war so überraschend leidenschaftlich, dass mir die Luft weg blieb.
Wir lösten uns voneinander, doch ich ließ meine Arme um seinen Hals.
Mein Blick fiel auf den Sidra, der neben uns funkelte und die Sonnenstrahlen reflektierte, die auf die Wasseroberfläche fielen.

„Manchmal versinkst du so tief in deinen Gedanken, dass ich wünschte, dir folgen zu können", sagte er. Ich hatte gar nicht bemerkt, wie abwesend ich war.
„Das tust du", sagte ich, ohne den Entschluss gefasst zu haben, darauf einzugehen. „Du bist derjenige, der zu jeder Zeit in meinen Gedanken lebt."
„Das ist wirklich schmeichelnd", sagte er.
„Eher lästig, würde ich sagen."
"Lügnerin."
Ich grinste. "Erwischt."
„Ich könnte meine besagte Zunge dafür nutzen, dass sich deine Gedanken nur noch um mich drehen", raunte er verführerisch.
„Wenn ich dann immer noch denken kann, ist das nicht gerade verlockend", erwiderte ich. Sein Lächeln wurde animalisch.
Mein Blick fiel kurz hinter ihm auf die Turmuhr, die die Dächer der Stadt überragte.
„Und ich denke, dass du deine Zunge für Rhysand brauchen wirst", sagte ich und strich mit einem Finger über seinen Kiefermuskel.
Er blinzelte irritiert.
„Um zu erklären, warum du schon wieder zu spät zu eurer Besprechung kommst", fuhr ich fort. Er erstarrte kurz, wirbelte dann herum und fluchte. Er gab mir einen schnellen Kuss und ich beobachtete kichernd, wie er so schnell in den Himmel hinauf schoss, als wäre Bryaxis hinter mir aufgetaucht.

Das Reich der Sieben Höfe - Licht Und KroneWo Geschichten leben. Entdecke jetzt