Bitte lass mich nicht allein. Tu mir das nicht an", hallte eine tiefe Stimme durch meine Gedanken. Unruhig wälzte ich mich auf die andere Seite.
Dann erklang ein Brüllen. In dem so viel Verzweiflung lag, dass ich die Augen aufriss. Das Geräusch schien aus den Wänden wiederzuhallen.
So viel Schmerz, so viel Verzweiflung, Schuld und Angst durchfluteten mich.
Doch alles war still.
Bitte lass mich nicht allein.
An diese Worte konnte ich mich nicht erinnern. Ich sollte mich auch gar nicht an Sie erinnern. Denn sie gehörten nicht mir. Die Nacht war ruhig und friedlich, und doch strömte schiere Panik durch mein Blut. Aber es war nicht meine eigene Panik. Ich hörte Cassians viel zu schnellen Herzschlag, bevor ich erkannte, das diese Gefühle von ihm kamen. Ich setzte mich abrupt auf und mein Kopf fuhr zu Cassian herum.
Sein Kiefer war verkrampft aufeinandergepresst und seine Augen zuckten unter seinen Lidern hin und her. Es waren seine Gedanken, die sich einen Weg über unsere Seelenverbindung bahnten und zu meinen Gedanken – meinen Gefühlen wurden. Zu meinem Schmerz, meiner Verzweiflung, meiner Schuld und Angst. Sie schienen mich zu erdrücken.
„Cassian", rief ich und schüttelte ihn. Keine Antwort. Ich versuchte, ihn aus diesem Albtraum zu retten, der in ihm tobte und der so heftig war, dass sich diese Gefühle auch auf mich übertrugen.
„Cassian! Wach auf", versuchte ich es erneut und krallte mich in seine Schultern. Seine Haut war mit kaltem Schweiß bedeckt und ich rief wieder seinen Namen.
»Es ist nur ein Traum.« Sobald ich die Worte ausgesprochen hatte, wusste ich, dass das nicht stimmte. Es waren seine Erinnerungen, die ihn quälten, von dem Tag, als ich gestorben bin. Ich kannte diese Art von Albträumen. Sie fühlen sich so real an, dass man glaubt, diesen Moment noch einmal zu durchleben.
Mein Herz klopfte mir bis zum Hals und mein Blut rauschte unruhig in meinen Adern, was auch eine Reaktion auf seine Gefühle war, die immer noch auf mich einprasselten. Ich setzte mich rittlinks auf ihn und schüttelte ihn noch mal.
„Ich bin hier, Cassian. Wach auf." Meine Stimme zitterte, doch dann öffnete er endlich die Augen und starrte mich entsetzt an.
„Ich bin hier", wiederholte ich heiser. „Ich bin am Leben, du brauchst dir keine Sorgen mehr zu machen. Ich bin hier.«
Ich erwiderte seinen erschrockenen Blick und sah die Tränen, die sich in seinen Augen gesammelt und über sein Gesicht liefen. Zitternd setzte er sich auf – ich immer noch auf seinem Schoß. Er legte mir eine Hand auf den Oberarm, als würde er überprüfen wollen, ob ich wirklich da war und kein Geist seiner Fantasie war. Erleichterung huschte über sein Gesicht, doch der Schmerz blieb.
Unterdrückte Schluchzer ließen seinen Körper beben.
„Aviana", sagte er mit rauer Stimme, als hätte er stundenlang geschrien.
„Ja. Ich bin hier", hauchte ich.
„Ich habe dich in meinen Armen gehalten... Aber... Aber du warst schon Tod. Die Seelenverbindung ist gerissen und ich...", er brachte den Satz nicht zu Ende. Sein Atem ging immer noch schwerfällig, als er seinen Kopf schließlich gegen mich sinken ließ und seine Arme meinen Körper umschlossen.
Ich hielt ihn ebenfalls fest, streichelte sein Haar, während er seinen Emotionen freien Lauf gewährte. Sein Schluchzen bohrte sich wie ein Dolch in mein Herz und ich umklammerte ihn fester.
„Ist okay", flüsterte ich, doch selbst ich konnte heraushören, wie ich meine eigenen Tränen zurückhielt. Sein Gesicht schmiegte sich an meinen Hals und seine heißen Tränen befeuchteten meine Haut, während weitere Schluchzer aus ihm herausbrachen und uns beide erzittern ließen.
Das war das erste Mal, dass er derart zusammenbrach. Ich wusste zwar nicht, was Rhysand oder die anderen mitbekommen hatten, ob sie dessen Zeuge wurden, was ich gerade erlebte. Aber es erfüllte mich mit einer gewissen Erleichterung, da er mich endlich an seinem Schmerz teilhaben ließ. Vorher waren es nur kleine Anzeichen gewesen, wie der Schmerz, der in seinen Augen glänzte, wenn er mich manchmal ansah. Wie er in der Nacht über mich gewacht hatte, aus Angst, dass ich aufhören könnte zu atmen. Seine Sorge, die mich überall hin begleitete, egal wo ich war. Jener Tag hatte sich tief in sein Inneres gekrallt und ließ ihn nicht mehr los.
Ich wiegte ihn in meinen Armen und streichelte sanft sein Haar. Er hält mich so gequält und verletzlich fest, als könnte ich in einem Wimpernschlag wieder verschwinden.
Die Erkenntnis traf mich wie ein Schlag.
Ich hatte ihn gebrochen. Mein Tod hatte das angerichtet. Und mein Verschwinden damals trug wohl auch etwas hinzu.
Ich wusste nicht, wie lange wir so verharrten, doch seine Schluchzer wurden weniger, bis sie schließlich verstummten und wir uns gegenseitig einfach nur im Arm hielten.
Er hob den Kopf.
Seine Augen waren zwar gerötet, doch sie nahmen wieder den wundervollen Haselnussbraunenton an, der vor losgelassenen Emotionen regelrecht leuchtete.
Ich sprach einen stummen Schwur an die große Mutter. Ich würde nie wieder zulassen, dass wir auf diese oder ähnliche Weise getrennt werden, und dass ich jeden einen qualvollen Tod bereiten würde, der es wagt, sich zwischen uns zu stellen.
Viele Wunden können mit der Zeit überwunden werden. Doch was ich manchmal an den Tagen spürte, an denen diese Wunden wieder ein kleines Bisschen aufrissen, will dort wohl für immer verweilen. Und jetzt wusste ich, dass es ihm genauso ging.
Ich strich ihm die Haare aus den Augen und lächelte sanft.
Egal, was du durchmachst: Manchmal musst du einfach dein Herz öffnen und fühlen. Denn die Wunden werden nicht heilen, wenn du so tust, als wären sie nicht da. Erinnerte ich mich an Mors Worte. Und es lag so viel Wahrheit darin, dass es beinahe nach ihrer Magie schmeckte.
„Du hast mir eine Kraft gezeigt, die stark genug ist, um Sonne in die dunkelsten Tage zu bringen", sagte ich und fuhr mit dem Daumen über seine Wange, um auch die letzten Tränen wegzuwischen.
„Und jetzt will ich diese Sonne für dich sein, Cassian", ich schluckte, „Aber das kann ich nur, wenn du mich lässt." Erleichterung löste das beklemmende Gefühl in mir, als sich ein zartes Lächeln auf seinen Lippen ausbreitete. Er zog mich höher auf seinen Schoß und meine Hand vergrub sich – immer noch etwas angespannt – in seinen Haaren.
»Du bist bereits das Licht meines Herzens, Veena. Du bist alles, was ich brauche", sagte er. Er küsste die Stelle über meinem Schlüsselbein, küsste meinen Hals, küsste die empfindliche Stelle unter meinem Ohr. Dies beruhigte nicht nur ihn, sondern auch mich.
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Das Reich der Sieben Höfe - Licht Und Krone
FanfictionDies ist der zweite Teil von meiner anderen Fanfiction Das Reich der Sieben Höfe - Licht und Dunkelheit. Und bezieht sich auf das Buch Das Reich der Sieben Höfe - Silberne Flammen von Sarah J. Maas - also der 5. Band der Reihe. Auch wenn der Krieg...