Das letzte Rennen vor der Sommerpause ist immer dasjenige, bei welchem ich mir am meisten Mühe gebe. Ich gebe bei jedem Rennen alles, aber das ist eines, bei welchem noch mehr Adrenalin durch meine Adern pumpt als sonst. Jede Zelle in mir spannt sich an, bis mein Wagen auf seiner Startposition steht und meine Augen auf den Ampeln liegen, welche nacheinander zu leuchten beginnen werden. Mein Körper saugt den Jubel des Publikums auf, welcher nur mir zu gelten scheint. Dabei ist mir bewusst, dass sie uns alle anfeuern. Meine Füße schweben über dem Gaspedal und ich bin bereit, jederzeit innerhalb von Sekunden auf höchstes Tempo zu kommen. Ich starte heute als zweiter. Vor mir startet Pasquale Charpentier – mein bester Freund und Teammitglied, in demselben strahlenden Rot wie ich. Hinter mir wird Luciano Vultaggio fahren – mein anderer bester Freund. Wir sind zusammen in London aufgewachsen, haben dieselbe Schule besucht und zur selben Zeit begonnen, über die Formel 1 zu träumen und in Kart-Wagen gegeneinander anzutreten. Nun sind wir hier. Ich schätze, dass wir es bis zu einem gewissen Grad geschafft haben. Aber wenn man ein Rennfahrer ist, kämpft man immer weiter. Um jedes Rennen, um jeden Sieg. Um jeden einzelnen Punkt. In dieser Saison hat Pasquale von uns dreien bisher die meisten Punkte erzielt. Luciano und ich haben in den vergangenen Jahren beide je eine Weltmeisterschaft gewonnen, diese scheint sich aber für unseren Freund zu richten, was mir gefällt. Ich würde es niemandem eher gönnen als ihm.
Ich zähle bei jedem Rennen bis fünf. Dann habe ich noch einen Atemzug, bis das Licht der Ampeln nicht mehr über mir strahlt. Eine Sekunde, bis nur noch mein Fahrzeug und ich existieren. Bis ich so fokussiert bin, dass ich nichts anderes mehr wahrnehme. Dann gibt es nur noch mich und die Straße unter mir. Nur noch das Gaspedal und die Bremse. Mein Lenkrad und hundertprozentige Konzentration. Etwas anderes dürfen wir uns gar nicht erlauben, denn jeder Fehler kann ein Leben kosten. Jeder Fehler kann Fatalitäten auslösen. Wer nicht alles gibt, verliert. Meistens verlieren sogar diejenigen, welche alles geben. Diese Strecke habe ich in der letzten Saison mit Bravour gemeistert. Ein Grand Slam. Ein absolutes Hoch in meiner Karriere, auch wenn ich dadurch noch sehr viel mehr kämpfen musste, um mir die Weltmeisterschaft zu erlangen. Luciano hätte sie sich beinahe unter den Nagel gerissen, weil ich mir meines Sieges zu sicher gewesen bin.
Die erste Ampel erstrahlt. Ich vergesse beinahe zu atmen, während alles in Zeitlupe zu geschehen scheint. Die zweite Ampel beginnt zu leuchten. Meine Hände umfassen das Lenkrad kräftiger. Drei, vier, fünf. Ich atme tief durch. Kein Licht mehr. Wie von selbst erzittert mein Auto, auch wenn ich dafür selbst verantwortlich bin. Dann existiert nichts mehr außer dem Beton unter meinen Rädern.
Während wir in die erste Runde fahren, behält Pasquale seine Führung. Wenn ich im Rückspiegel alles richtig gesehen habe, sollte sich auch hinter mir nicht viel mit den Positionen geändert haben. Zumindest ist Luciano immer noch direkt hinter mir, auch wenn ich den Abstand ziemlich gut vergrößern konnte. Zwischen Pasquale und mir ist hingegen weniger Abstand, was gut für mich ist. Eigentlich gut für uns beide, denn für das Team ist eine doppelte Teamführung so ziemlich das beste Zeichen. Jedenfalls bringt es uns viele Punkte.
Die ersten zehn Runden vergehen wie im Handumdrehen. Es hat zwar schon eine gelbe Flagge gegeben, welche einen sehr milden Unfall signalisiert hat. Ich bin dabei von Luciano überholt worden, aber ich habe noch viele Runden, mit welchen ich das wettmachen kann. Noch ist nichts entschieden.
Sobald das Safety-Car nicht mehr auf der Rennstrecke ist, drücke ich das Gaspedal durch, um mich an Luciano vorbeidrücken zu können. Einige Kurven lang gelingt es ihm positiv, mir aus dem Weg zu fahren, bis ich ihm selbst aus dem Weg gehen muss.
„In der Kurve 15", wird mir ins Mikrofon gesprochen, während ich für die Bremszone langsamer werde, ehe ich dann wieder mit der Aufholjagd weiterfahren kann. Das Jubeln der Fans rauscht in meinen Ohren, während ich zur Kurve 13 presche, um in der fünfzehnten genug nahe an ihm zu sein.
Endlich wird der Abstand zwischen uns wieder kleiner, doch gerade als ich in die fünfzehnte Kurve gelange, sehe ich in meinem linken Augenwinkel ein explosionsartiges Feuer. Automatisiert werde ich ein wenig langsamer, sodass ich den zweiten Platz direkt vergessen kann. Aber das ist in diesem Moment nicht wichtig. Jedes Mal, wenn Feuer auf einer Formel 1 Rennbahn aufleuchtet, ist das ein schlimmes Zeichen. Eines der schlimmsten, um genau zu sein.
„Rote Flagge", erschallt durch meine Ohren, noch ehe ich sie erblicken kann. Ich erhasche einen Blick auf die Autos vor mir. Auf das Auto vor mir. Das Auto von Luciano Vultaggio. Pasquales ist weit und breit nirgends zu sehen. Mein Herz hört für einige Momente auf zu schlagen, während ich zusammen mit den anderen Autos zu den Boxen fahre. Mein Teammitglieder ist da draußen. Komplette Stille fällt über mich wie eine Decke. Meine Augen haften an dem Feuer, bei welchen schon Feuerwehrmänner mit Feuerlöschern stehen und eine Katastrophe vermeiden wollen. Sie sind dabei, Pasquales Leben zu retten. Ich vernehme nicht, ob jemand etwas sagt, ich sehe mich stattdessen um, doch auf jedem Gesicht ist Schock und Besorgnis zu sehen. Jeder Fehler könnte ein Leben kosten. Dieser könnte ihn seines gekostet haben. Ich atme kaum noch, während ich wie gebannt auf das Flammenmeer starre, welches sich vermindert zu haben scheint. Das Auto ist nicht in zwei Teile, es sieht lediglich ramponiert und geschrottet aus. Ich habe keine vollständige Sicht darauf, aber wenn Pasquale in diesem Auto ist und nicht herauskommt, hat er vermutlich sein Bewusstsein verloren oder ist tot.
Eine Krankenliege eilt schon zu dem Debakel, während die Feuerwehrmänner Pasquales Auto vom Feuer befreit haben zu scheinen. Er selbst steigt allerdings nicht aus. Die nächsten Minuten erlebe ich in Trance. Ich sehe, wie man ihn aus seinem Sitz befreit und auf die Krankenliege legt und schließlich zur Krankenstation fährt. Bis mir gesagt wird, dass sein Herz schlägt, er selbst aber bewusstlos ist, kann ich nicht wirklich atmen. Das Rennen wird zwar weitergeführt, aber ich habe keine Ahnung, wie ich mich darauf konzentrieren soll, wenn ich nur an meinen besten Freund denken kann, der fatal verletzt sein könnte. Nur weil sein Herz zu diesem Zeitpunkt geschlagen hat, muss das noch nichts bedeuten.
Damit melde ich mich auch schon mit dem ersten Kapitel von „Dirty Air" 🥳🎉
Wie hat es euch gefallen?
Schaut jemand von euch Formel 1-Rennen 🏎?
Lasst gerne Rückmeldungen da 😊
Ich wünsche euch allen einen schönen Pfingstmontag und dann noch eine tolle Woche! Bis zum nächsten Kapitel 💖
DU LIEST GERADE
Racing Hearts
RomanceNacer ist der Prinz der Rennbahn. Sicily ist die Prinzessin der Gourmetwelt. Eine gespielte Beziehung. Unkompliziert - zumindest bis Gefühle ins Spiel kommen und die beiden komplett aus der Bahn werfen. START: 30/05/22 ENDE: 17/03/23