Ich begleite Nacer am nächsten Tag zu der Rennbahn. Er hätte meine Begleitung vermutlich nicht nötig, aber an der Art, wie er meine Hand immer wieder drückt und seinen Blick nervös über mich schweifen lässt, merke ich, dass es ihm hilft, momentan nicht allein sein zu müssen. Wir kommen größtenteils problemlos an, bloß werde ich nicht in den Raum der Werkstatt zugelassen.
„Was hat das zu bedeuten? Sie ist meine Freundin!", knurrt Nacer Braedin an, doch dieser hebt nur entschuldigend die Hände in die Luft.
„Tut mir leid. Regeln sind nun einmal Regeln. Da kann ich nichts daran ändern, so gern ich das auch hätte. Sie kann aber in der Lounge warten, da hat es sonst viele Menschen."
Nacer sieht so aus, als würde er Braedin am liebsten windelweich prügeln, dreht sich dann aber zu mir um. Seine Augen schweifen fragend über mein Gesicht und er streicht mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht.
„Ist das in Ordnung für dich?", erkundigt er sich leise und blendet Braedin dabei aus. Ich würde ihm gerne sagen, dass es mich verwirrt, dass ich nicht mit reinkommen darf, aber dann würde er ein Theater veranstalten und versuchen, die Lage zu ändern.
„Ja, natürlich. Ich komme zurecht. Viel Spaß dir."
Ich zwinge mir ein Lächeln auf die Lippen, auch wenn ich mich ernsthaft frage, was ich einen ganzen Tag hier machen soll, wenn ich nicht auf Nacer aufpassen kann. In der Lounge wäre ich allein, während die anderen Leute dort bestimmt mit jemandem zusammen unterwegs sind. Ich zwinge diesen Gedanken zurück und lehne mich schließlich nach vorne, um Nacers Umarmung entgegenzukommen.
„Tut mir leid, dass ich deinen letzten Tag in Italien nicht mit dir verbringen kann. Heute Abend holen wir das nach", wispert er mir ins Ohr, worauf ich lächle. Ich habe den Fakt, dass ich heute zum letzten Mal hier schlafen gehe, ehe ich wieder nach England zurückreise, ignoriert. Trotz allem haben diese Ferien sich erholend angefühlt und mich in eine Blase katapultiert, welche zuhause wieder platzen wird. Ein Teil von mir fürchtet diesen Moment, weil ich in den letzten Tagen mit Nacer glücklich gewesen bin – zumindest sobald er wieder gesund geworden ist. Aber auch sonst haben wir eine gute gemeinsame Zeit zusammen verbringen können.
„Ich freue mich darauf."
Ich löse mich aus seinen Armen und nicke Braedin zum Abschied zu, ehe ich mich auf den Weg zur Lounge mache, bevor ich etwas Impulsives veranstalte, was ich nur bereuen werde.
„Sisi!", holt mich eine Stimme aus den Gedanken. Ich drehe mich um und entdecke niemand Geringeres als meinen Bruder. Er sieht entspannter aus als sonst, aber ich hege dennoch nicht das Bedürfnis, mich mit ihm in ein Gespräch zu verwickeln.
„Luciano", stelle ich fest. Er hat seine Haare zu einem Millimeterschnitt schüren lassen, was seine kristallblauen Augen betont. Diese sind wohl das Einzige, was ihm unsere Großmutter vererbt hat. Er überragt mich um wenige Zentimeter, ist allerdings durchaus trainierter und logischerweise auch muskulöser als ich.
„Hi. Ich habe dich schon lange nicht mehr persönlich getroffen."
Ich ziehe eine Augenbraue in die Höhe und mustere seine gerunzelte Stirn. Er weiß wohl selbst, wieso das der Fall ist. Jedenfalls räuspert er sich, als er meinen anklagenden Blick bemerkt.
„Es ist schön, dich zu sehen", fährt er fort. Allmählich finde ich dieses Verhalten suspekt. Normalerweise nutzt er meine Anwesenheit, um mir zu verdeutlichen, wieso er so viel besser ist als ich. Dass er diese Worte nun sagt und auch ehrlich zu meinen scheint, verwirrt mich nur. Aber es weckt auch meine Neugier.
„Gibt es dafür einen bestimmten Anlass?", will ich wissen.
Luciano zuckt mit den Schultern, während sein Gesicht sich schuldbewusst verzieht.
„Das habe ich wohl verdient. Aber ich meine es ernst. Seit das mit dir und Nacer tatsächlich ernst gemeint ist, sehen die Dinge anders aus."
Ich lege den Kopf schief und verschränke die Arme vor der Brust.
„Ja?"
Er nickt, während sich sein Gesicht verdunkelt.
„Die Dinge sind dort nicht mehr normal, Sicily. Es ereignen sich merkwürdige Sachen und du stehst mitten im Fadenkreuz, wenn du mit ihm zusammen bist. Ich würde dir gerne raten, dich von ihm zu trennen, aber du scheinst ihn wirklich zu lieben."
Dass Luciano so aussieht, als würde ihn die ganze Sache interessieren, verwirrt mich mehr, als dass er nicht versucht, mir seine Meinung einzutrichtern.
„Wieso interessiert dich das überhaupt? Ihr habt sonst auch immer Freude daran, mich runterzumachen."
Luciano reibt sich über das Gesicht und seufzt gleichzeitig.
„Das ist nicht wahr. Ich mache mir Sorgen um dich. Dass ich dabei nicht unbedingt höflich bin, ist mir bewusst. Das soll auch keine Unschuldsnummer werden. Ich wollte dir nur sagen, dass du aufpassen musst, wenn du hier bist. Es ist sogar besser, wenn du ganz wegbleibst."
Meine Augen fallen beinahe aus den Höhlen. Luciano versucht mir das einzureden, nachdem er sein ganzes Leben dafür verwendet hat, mir zu verdeutlichen, dass ich mein Leben auf den Seitenlinien einer Rennbahn zu verbringen habe?
„Woher kommt der Sinneswandel?", verlange ich knapp zu wissen.
„Es ist gefährlich, hast du das nicht verstanden? Pasquale hätte sterben können. Nacer hätte sterben können. Die beiden hassen mich mittlerweile. Es gibt eine weitere Person, welche in dieses Muster fällt."
Mich. Er glaubt, dass ich ihn hasse?
„Ich hasse dich nicht", stelle ich klar. Luciano verzieht das Gesicht ein wenig.
„Du wirst mich wohl kaum mögen, nachdem ich in all den Jahren nicht unbedingt nett zu dir gewesen bin."
Ich zucke mit den Schultern, auch wenn ich weiß, dass er recht hat. Ich werde ihm die Jahre nicht verzeihen, in welchen ich eine Familie gebraucht hätte, aber niemand für mich da gewesen ist. Als ich ihn als meinen Bruder gebraucht hätte, er allerdings nur auf meinen Gefühlen getrampelt hat.
„Ich denke nicht, dass dieses Muster stimmt, Luciano", räuspere ich mich. Selbst wenn es stimmen würde, würde es keinen Sinn machen. Denn dann wären die Motivationen der für all die merkwürdigen Ereignisse verantwortlichen Person noch unlogischer als ich mir das jetzt schon vorstelle.
„Es könnte trotzdem wahr sein. Sei einfach vorsichtig, Sisi. Ich möchte nicht, dass ich dich in einem Krankenhaus wiederfinde."
Ich presse die Lippen zusammen und spiele mit dem Paddock-Pass, welcher um meinen Hals baumelt.
„Wieso nicht?"
„Weil du meine Schwester bist. Trotz all unseren Unstimmigkeiten wünsche ich dir nichts, was dich gefährden könnte. Ich wollte dir immer nur helfen."
Ich schnaube. Er hat eine merkwürdige Art, das zu zeigen.
„Wieso machst du dir plötzlich derartige Sorgen, Luciano? Weißt du irgendetwas, was sie mir verschweigen?", hake ich nach.
„Nein. Ich schwöre, dass ich nichts Weiteres weiß. Aber der Verlauf der Saison macht mir Sorgen. Beide haben die Weltmeisterschaft angeführt, Sisi. Das ist etwas Weiteres, was sie gemeinsam haben. Beide sind innerhalb weniger Momente des Thrones gestoßen worden, auch wenn Nacers bisher nur wackelt. Eine Lebensmittelvergiftung ist kein Spaß. Wer weiß, was geschehen wäre, wenn Nacer allein gewesen wäre und niemand nach ihm gesehen hätte. Wer weiß, wie weit man noch gehen wird, um irgendetwas hier zu bewirken. Das alles macht mir Sorgen, denn es betrifft nicht nur deren Team, es betrifft uns alle, auch wenn es bisher nicht danach aussieht. Also pass auf dich auf. Und gib auch ein wenig Acht auf Nacer. Er hat schon viel zu lange niemanden mehr gehabt, auf den er sich hätte stützen können."
Jetzt haben wir auch Luciano wieder mal gesehen 🥳
Was halten wir von Sicilys Bruder?
Hat er wohl recht?
Ich hoffe, dass euch die Kapitel gefallen haben und wir lesen uns bald wieder 💜
[2/2 DOPPEL-UPDATE]

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Racing Hearts
RomanceNacer ist der Prinz der Rennbahn. Sicily ist die Prinzessin der Gourmetwelt. Eine gespielte Beziehung. Unkompliziert - zumindest bis Gefühle ins Spiel kommen und die beiden komplett aus der Bahn werfen. START: 30/05/22 ENDE: 17/03/23