„Sicily", sage ich, sobald ich sehe, dass sie den Anruf angenommen hat. Ich hätte sie eigentlich nicht anrufen dürfen, aber ich brauche einen Grund, um in diesem Moment nicht in meinen eigenen Schuhen sein zu müssen.
„Du bist gut gefahren."
Ich höre ihre regelmäßigen Atemzüge durch das Telefon, was mein eigenes Blut ebenfalls ein wenig beruhigt. Ich habe gesagt, dass es mir nicht gut geht und ich mit ihr telefonieren muss. Dabei ist mir klar, dass ich eigentlich nur Angst habe. Ich hasse Interviews, vor allem, wenn kritische Dinge im Hintergrund laufen. Die ersten Fragen werden sowieso alle für Pasquale und sein Auto gestellt werden, damit ein ‚Einblick' von jemandem vorliegt, der die Situation live miterlebt hat und hinter die Kulissen blicken kann. Das sind alles Fragen, welche ich eigentlich gar nicht beantworten darf, nur schon aus juristischen Gründen nicht.
„Danke."
Stille breitet sich zwischen uns aus. Ich warte darauf, dass sie etwas sagt, dass sie etwas fragt. Ich möchte ihr die Wahl zu sprechen überlassen, weil ich bezweifle, dass es meine Entscheidung sein sollte, worüber wir reden. Ob wir überhaupt reden. Ich brauche diese Leitung einfach, weil sie mich an einen anderen Ort bringt und mich von dem fernhält, was mich hier zurückhält. Was ich hier nicht sagen kann. Was ich nicht einmal denken sollte.
„Gern geschehen."
Sie schluckt. Ich denke, dass sie genervt von mir ist. Wir haben unzählige Dinge, die noch offenstehen, die wir aber nicht ansprechen, weil jegliche Art des Ansprechens für uns eine Art des Nahetretens ist, welche wir uns verbieten. Wir spielen ein gefährliches Spiel und je unpersönlicher es bleibt, desto besser. Ich habe ihre Probleme gesehen und meine sollten mittlerweile in jeder Zeitung stehen. Das hilft der Situation nicht, also müssen zumindest wir darauf achten, dass wir uns nicht zu Dingen treiben lassen, über welche wir keine Kontrolle haben.
„Wieso hast du angerufen, Nacer?"
Sicily klingt als würde sie mit ihrer Ruhe ringen, aber ich kann nicht einschätzen, aus welchem Grund.
„Weil ich-... weil ich eine Pause gebraucht habe."
Ich denke, dass wir gut darin sind, so wenig wie möglich zu sagen. Stille sagt mehr als tausend Worte es jemals tun könnten. Schweigen ist verletzender, als tausend Messer es jemals sein könnten.
„Wovon?"
„Von den Fragen."
Sicily schnaubt.
„Dann sollte ich wohl damit aufhören, dir Fragen zu stellen."
„Vielleicht."
„Kannst du denn nicht auf eine andere Art eine Pause erlangen?"
Ich schmunzle, während ich mich in dem Stuhl aufrichte, um nach einer Wasserflasche zu greifen.
„Ich sollte es jedenfalls nicht tun. Das hier ist schon kritisch."
Die Zeit dehnt sich, während ich trinke. Das ist dumm, wenn man bedenkt, dass ich schon durch den Champagner zu viel Flüssigkeit in mir habe.
„Du hast also nicht angerufen, um zu reden, sondern damit du eben nicht reden musst."
Ich nicke, bis mir auffällt, dass sie das gar nicht sehen kann. „Ja."
„Okay."
„Ja?"
„Ja. Wir müssen nicht reden. Ich kann dir Musik abspielen lassen. Von meinem Computer oder so. Das dauert allerdings ein bisschen. Hast du so viel Zeit?"
„Ja."
Ich entspanne mich ein wenig und lehne mich im Stuhl zurück, während ich die Augen schließe. Ich höre nur das Rauschen von Sicilys Laptop, weil das Gerät gefühlt dreißig Jahre alt ist. Ihre Finger scheinen regelmäßig über die Tastatur zu gleiten. Eine Pause. Dann beginnt sie, mit den Fingern zu trommeln. Ich kenne die Melodie nicht, aber es hat einen angenehmen Beat.
„Sign of the Times" von Harry Styles dringt durch meinen Handylautsprecher, noch bevor ich sie fragen kann, ob sie willkürlich mit den Fingern getrommelt hat oder nicht. Vermutlich wäre das ohnehin eine belanglose Frage gewesen. Durch die langsame Taktgeschwindigkeit verlangsamt sich auch meine Atmung automatisch. Wird ruhiger. Klarer. Zum Teil hört man Musik und man denkt sich nichts dabei, man erhält einfach ein Gefühl davon, während die Ohren wahrnehmen, was unser Verstand nicht begreift.
Aber dann gibt es Tage, an welchen der Takt der Musik meinen Herzschlag beeinflusst, mich fühlen lässt, was ich vergessen oder verdrängt habe, mir die unendliche Welt der Kunst eröffnet. Dabei wird die Musik erst durch den Zuhörer zu etwas Besonderem. Es gibt Menschen, die hassen dieses Lied vielleicht, aber sie werden niemals verstehen, dass das ein Lied ist, welches so viel Einfluss haben kann. Es ist tieftraurig, lässt mein Gedankenspektrum gleichzeitig aber auch fliegen, weil ich mich endlich von dem Gefühl befreien kann, nicht gefangen zu sein. Dabei achte ich nicht einmal auf den Text, sondern nur auf die Begleitung oder auf die Art, auf welche die Stimme zu mir durchdringt, auf welche sie mich noch weiter wegbringt als dieser Anruf mit Sicily. Ich bin weder in Belgien noch in London, ich bin irgendwo zwischen den Sternen, während mich die letzten Töne des Liedes wieder zurück auf die Erde zu katapultieren scheinen. Ich warte darauf, dass mich Sicily in die nächste Welt schickt, in ein nächstes Abenteuer. In eine neue Möglichkeit. Aber sie tut es nicht. Stattdessen entsteht wieder Stille zwischen uns, auch wenn sie dieses Mal so anders ist als vorher.
Sicily wartet darauf, dass ich sie breche. Sie möchte vermutlich wissen, was ich von dem Lied halte. Aber wenn ich ehrlich zu ihr wäre, würde sie mir vermutlich nur sagen, dass der Champagner, welchen ich getrunken habe, mir zu Kopf steigt. Ich kann nur an Braedins Worte zurückdenken, um mir den Sieg wieder verderben zu lassen.
„Egal wer von unserem Team es auf das Podium schafft – einer von euch muss es tun – wir werden feiern, als hätten wir dadurch die Weltmeisterschaft für uns bestimmt. Wir haben es nötig, im guten Licht zu baden. Wir müssen erstrahlen, um die Dunkelheit von außen ablenken zu können."
Ich halte nicht sonderlich viel davon, aber ich habe trotzdem genickt. Trotzdem gefeiert, als gäbe es kein Morgen. Und jetzt fühle ich mich beschissen, weil ich mir vorkomme, als wäre diese Freude nur gestellt gewesen. Dabei habe ich mich gefreut. Ich führe die Weltmeisterschaft nun mit ein wenig mehr Punkten an. Bei den Konstrukteuren steht es auch gut um uns. Nur wieso bin ich dann nicht in der Lage, mich tatsächlich gut darüber zu fühlen?
„Du solltest dich an die Arbeit machen, Nacer. Ich habe auch noch viel zu erledigen", bricht Sicily schließlich die Stille. An ihrem Tonfall kann ich nicht einschätzen, was sie sagt. Ich kann mir nicht einmal vorstelle, wie sie mich gerade ansehen würde. Ich weiß nur, dass ich auf ihre Lippen starren würde, wenn sie nun hier wäre. Auf ihre Haare, auf ihre Augen, auf die Wangen, welche sie pudert, obwohl sie gar kein Puder bräuchte. Sie ist auch so wunderschön.
„Ja", stimme ich wieder zu. Mehr scheine ich momentan nicht sagen zu brauchen. Das geschieht eben, wenn man nicht weiß, welche Worte richtig oder falsch sind und sich deshalb nur darauf beschränkt, die simpelsten überhaupt zu benutzen.
„Kommst du nach dem Rennen nach London?"
London. Sie sagt nicht nach Hause. Ich weiß nicht, wieso mir das überhaupt auffällt.
„Nein. Ich reise direkt weiter."
Es gibt ohnehin genug zu tun.
„Okay. Viel Spaß."
„Danke", sage ich. Weil ich nicht weiß, was ich sonst noch sagen sollte, weil ich nicht einschätzen kann, welche Verabschiedung angemessen wäre, lege ich direkt auf, ohne ihr überhaupt die Gelegenheit zu geben, dieses Gespräch weiterzuführen.
Endlich hat es wieder einen kleinen Nacer-Sicily-Moment gegeben hihi 😊🫢
Ich hoffe, dass euch das Kapitel gefallen hat; lasst gerne Meinungen da 💕
Geniesst das Wochenende, wir lesen uns am nächsten dann wieder 💜💜
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Racing Hearts
RomanceNacer ist der Prinz der Rennbahn. Sicily ist die Prinzessin der Gourmetwelt. Eine gespielte Beziehung. Unkompliziert - zumindest bis Gefühle ins Spiel kommen und die beiden komplett aus der Bahn werfen. START: 30/05/22 ENDE: 17/03/23