35 - Sicily

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Nacer hat Fieber und sitzt dennoch in diesem überhitzten Auto. Ich habe Mühe damit, mir keine Sorgen zu machen, denn alle anderen machen sich riesige Sorgen. Für Pasquale scheint das Qualifying zum ersten Mal seit langer Zeit gut zu laufen, aber bei Nacer könnte die Katastrophe beinahe nicht grösser sein. Er ist zwar erst in der Out Lap, aber er hat nicht so ausgesehen, als sollte er sich momentan auf etwas derartig konzentrationsforderndes fokussieren, sondern zuhause im Bett liegen.

„Wie ist er krank geworden?", fragt Braedin mich schon zum hundertsten Mal und fährt sich durch die Haare. Nacer hat noch rund zehn Minuten, um eine gute Runde hier in Imola zu fahren, aber ich fürchte, dass nicht einmal das ihm genügen wird. Nacers Präzision und Perfektionismus auf der Fahrstrecke ist kaum zu übertreffen, aber heute scheint das eher ein Rekord im negativen Bereich zu werden.

„Ich weiß es nicht", antworte ich genauso oft wie Braedin mich das schon gefragt hat. „Aber er braucht einen Arzt. Sein Fieber war vorher ziemlich hoch."

Braedin flucht leise und fährt sich durch das Haar, dann sieht er auf den Bildschirm, auf welchem Nacer zu sehen ist. Seine erste Runde ist entgegen meinen Erwartungen nicht die schlechteste, aber dennoch so schlecht, als dass er es mit diesem Resultat nicht ins Q2 schaffen wird. Platz 17.

„Mal sehen, wie weit er es bringt. Bis morgen sollte es ihm bestimmt genug gut gehen, als dass er ein Rennen fahren kann und da wäre eine gute Position von Vorteil."

Ich presse die Lippen zusammen und nicke, auch wenn ich das für eine schlechte Idee halte. Ich wünschte, dass Nacer diese Punkte für die Weltmeisterschaft nicht so nötig hätte, denn dann könnte ich es übers Herz bringen, Braedin zu überzeugen, dass Nacer nicht fahren kann. Letzterer hat heute Morgen erbrochen, aber dennoch dafür gesorgt, dass ich ihn nicht von seinen Zielen abbringe. Nacer war nicht unbedingt undeutlich über die Bedingungen unserer Abmachung, weil ich ihm nicht schaden, sondern helfen sollte. Offenbar versteht er nicht, dass meine Sorge nicht gegen ihn gerichtet ist.

Fünf Minuten noch. Meine Augen kleben am Bildschirm. Nacer beginnt wieder eine Runde, drückt das Pedal dieses Mal bis zur äußersten Grenze durch, sodass mein Atem stockt. Er geht ein hohes Risiko ein, wenn er so schnell im Q1 fährt, wo er seine Zeit nur wenig und nicht um Welten verbessern müsste. Mein Herz schlägt so kräftig, dass ich den Herzschlag in meinem Kopf spüren kann. Meine Hände schlingen sich um den Sitz unter mir, während ich bete, dass er nicht für ein paar Sekunden den Fokus verliert, weil das sein Ende bedeuten könnte.

Als er die Runde mit einer Zeit beendet, welche grün geschrieben ist und ein Plus vor sich hat, bricht um uns herum Jubel heraus. Nacer hat sich nicht nur in die nächste Runde verbessert, sondern sich auch die Bestzeit erarbeitet. Ich applaudiere ebenfalls, weil es mich so stolz macht, dass er es geschafft hat. Braedin sagt irgendetwas in sein Headset, was ich nicht verstehe. Ich bin froh, dass Nacer jetzt schon zurückfahren und sich ein wenig erholen kann, weil diese Zeit schwierig zu knacken sein wird.

Während das Q1 hervorragend gewesen ist, läuft das Q2 gut und das Q3 zunehmend schlecht. Nacer beginnt seine fliegende Runde in der letzten Minute und ich halte den Atem an. Stand jetzt startet er morgen als Neunter. Es ist ihm selbst bewusst, dass es jetzt eigentlich um alles geht – und dass er dafür keine Energie mehr hat. In der zweitletzten Kurve verliert er kurz die Kontrolle über das Heck und landet direkt im Kies. Ich ziehe scharf die Luft ein. Ein Blick auf den Bildschirm genügt, um meine Theorie zu bestätigen: alle außer ihm haben sich in ihrer Zeit verbessert. Er ist auf Platz 10 heruntergerutscht. Nacer bleibt einige Sekunden im Auto, steigt dann aber aus und flucht über das Radio. Ich verziehe mein Gesicht.

„In seinem Raum wartet ein Arzt auf euch", informiert mich Braedin, ohne das Qualifying zu kommentieren. Das muss er auch gar nicht tun, denn es ist offensichtlich, was für eine Katastrophe es gewesen ist. Auch wenn Pasquale gut abgeschnitten hat, sind das schlechte Aussichten für morgen. Hoffentlich ist der Schaden am Wagen nicht allzu schlimm.

„Gut, danke."

Ich sehe, dass Nacer mit einem Scooter zu uns gefahren wird, während sich ein Schlepper um sein Auto kümmern muss, welches er nicht mehr hat bewegen können. Ich bewege mich in Richtung Ausgang, sodass ich Nacer empfangen kann. Mein Herz schlägt schnell in meiner Brust und scheint beinahe herausspringen zu wollen. Sobald ich ihn sehe, fällt er mir um den Hals. Vielleicht, weil er das vermisst hat und irgendwie spürt, dass ich ihn momentan nicht wegschieben würde, egal ob es hier andere Leute hat oder nicht. Vielleicht, weil er so erschöpft ist, dass er sich selbst kaum mehr mit eigener Energie auf den Beinen halten kann.

In der Krankenstation angekommen, führe ich ihn zum Wartezimmer, während ich das Bündel seiner Papiere, welche ich vorher schon sicherheitshalber bereitgemacht habe, so ordne, dass seine Krankenkasse-Karte und sein Ausweis ganz vorne sind. Nacer sieht so fertig aus, wie ich ihn schon lange nicht mehr gesehen habe – genau genommen noch nie. Sein Zustand alarmiert mich, weil ich nicht weiß, wie ich ihm helfen kann.

Er lehnt seinen Kopf an meine Schulter und schließt die Augen. Er ist grünlich um die Nase und ich befürchte, dass er bald erbrechen wird. Ich hoffe, dass es nicht vom Essen gestern gewesen ist. Er hat nämlich meine Bestellung gegessen, während ich seinen Fischteller verspeist habe, was mit Abstand eines der besten Menus gewesen ist, von welchen ich jemals gekostet habe.

„Nacer Veenstra", ruft uns eine Krankenschwester auf. Nacer steht nicht auf, sondern schüttelt nur leicht den Kopf. Mein Herz zieht sich zusammen. Ich streiche ihm die Haare aus der Stirn, während die Krankenschwester auf uns zugelaufen kommt und Nacer aufmerksam beobachtet.

„Nacer, du musst aufstehen", fordere ich ihn sanft auf. Er murmelt etwas Unverständliches.

„Sind Sie seine Partnerin?", fragt die Krankenschwester an mich gerichtet, als sie vor uns steht und sich ihm Raum umsieht. Sie sucht vermutlich nach Wegen, wie sie uns helfen kann. Ich werde automatisch rot, während sich in meiner Magengegend eine Wärme sammelt. Ich will ihr widersprechen, verzichte dann allerdings darauf, weil ich glaube, dass das nur Zeit kosten würde.

„Ja", sage ich also. Sie nickt und sieht mich verständnisvoll an.

„Gut. Es wäre vielleicht gut, wenn Sie ihn stützen, wenn er nicht selbstständig gehen kann. Ich kann leider nicht sofort einen Rollstuhl oder sonstige Transportmittel zur Verfügung stellen, wenn es sich bei dem Patienten nicht um körperliche Verletzungen handelt."

Sie wirft mir einen entschuldigenden Blick zu, doch ich winke nur ab. „Gar kein Problem", bringe ich hervor und lächle sie schwach an.

„Los geht's", murmle ich eher zu mir selbst als zu ihr und stehe dann auf, um Nacer zu helfen.

Mal sehen, wie sich Nacer weiterhin auf den Beinen hält...😌

Ich hoffe, dass euch die Kapitel gefallen haben. Genießt das Wochenende und wir lesen uns bald wieder 💗

[DOPPEL-UPDATE 1/2]

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