14 - Nacer

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Ich habe schon oft zu Abend gegessen und dabei zugesehen, wie sich die Situation in ein Desaster gesehen hat, aber das hier ist eine andere Geschichte. Sicily meidet meinen Blick auf dem gesamten Heimweg genauso sehr wie eine Konversation. Sie scheint mich nicht einmal mehr richtig wahrzunehmen, sondern ist regelrecht von ihren eigenen Gedanken gefesselt. Ich hätte gerne behauptet, dass mein Tag nicht unbedingt der Hit war, weil die Befragung größtenteils eine Katastrophe war.

Aber dann habe ich miterlebt, wie ein Teil ihrer Seele regelrecht ihren Körper verlassen hat, während sie nichts weiter getan hat, als für sich selbst einzustehen. Ich hätte sie gerne verteidigt, aber ich habe mich enthalten, weil ich nicht glaube, dass das ein Kampf ist, welchen ich ausfechten sollte. Also sitze ich nun hier mit ihr im Taxi, während mir die Worte fehlen. Wie kann ich auch sagen, dass sie sich auf eine bestimmte Art verhalten soll, wenn ich nicht einmal einschätzen kann, wie sie sich fühlt. Sie wirkt nicht einmal mehr wie eine sexy Vogelscheuche auf mich, obwohl sie auf jede erdenkliche Art wunderschön aussieht, heute noch mehr als sonst, weil sie sich so herausgeputzt hat. Sie wirkt wie ein Geist. Sie ist so bleich, dass ihr roter Lippenstift aussieht wie Blut und gleichzeitig verhält sie sich starr wie eine Statue. Sie besinnt sich auch nicht, als wir aussteigen oder mit dem Lift zu unserer Etage fahren. Sie steht einfach da, die Lippen getrennt, und starrt in die Ferne.

Wenn ich gewusst hätte, dass sich dieser Abend so entwickeln würde, hätte ich Braedins Idee niemals zugestimmt. Ich hätte einfach auf Pasquale hören sollen. Natürlich wusste er, dass ihre Familie absolut nicht in Ordnung zu ihr ist. Natürlich hat er mir von meiner beschissenen Idee abgeraten. Natürlich.

Sicily verschwindet im Badezimmer, ohne ihre hochhakigen Schuhe auszuziehen oder ihre Jacke aufzuhängen. Wenige Momente später höre ich die Dusche. Ich nehme an, dass sie das braucht, um zu sich zu kommen. Ich ziehe mich währenddessen um und suche in der Küche nach etwas, was ich ihr jetzt noch zu essen geben kann. Ich finde aber nur zwei Macarons, ein paar Früchte und Schlagsahne. Ich atme tief durch, während ich mich ans Werk mache. Ich schneide die wenigen Erdbeeren auf, welche es noch hat, bestreue sie mit Zucker und toppe das ganze mit einem Berg Schlagsahne. Zusammen mit einem Glas Wasser stelle ich das auf ein Tablett und bringe es auf ihren Schreibtisch.

Beinahe fällt alles zu Boden, als ich entdecke, was für ein riesiges Zimmer sie hat. Ich möchte nicht in ihre Privatsphäre dringen, aber heiliger Himmel! Sie hat da Wände, an welchen sich Bücherregale türmen, ja es steht sogar ein Flügel da und ein unfassbar großes Boxspringbett. Das hat sie vermutlich nur so groß bestellt, damit sie darauf unzählige Kissen stapeln kann, wie sie es getan hat. Ich schüttle den Kopf, besinne mich, lege das Tablett auf ihren Tisch und verschwinde dann wieder in die Küche, wo ich mir selbst ein Glas Milch einschenke. Endlich verlässt sie das Badezimmer. Sie sagt mir nichts, aber die wenigen Sekunden, welche sie mir in die Augen sieht, reichen vollkommen aus. Ich habe sie vielleicht nicht weinen gehört, aber die unterlaufenen, roten Augen lügen nicht. Sie tun es niemals.

Sicily schlägt ihre Zimmertür hinter sich zu und sperrt mich aus, noch bevor ich etwas sagen kann. Natürlich will sie nichts von mir hören. Diese Situation ist klar mir zu verdanken. Dennoch habe ich das Gefühl, dass ich etwas tun sollte. Ich setze mich neben ihrer Zimmertür auf den Boden und lehne meinen Kopf an die Wand hinter mir, während ich die Augen schließe. Für einige Momente ist nichts zu hören. Sie schluchzt nicht und auch sonst vernehme ich keinen Laut. Dann poltert es aus dem Zimmer, vermutlich ist sie über etwas gestolpert. Sicily flucht leise, doch dann wird es wieder still. Ich überlege mir, an ihre Tür zu klopfen, doch ich weiß nicht, was ich ihr sagen sollte, wenn wir uns gegenüberstehen. Ich sollte mich entschuldigen, aber ich denke nicht, dass sie das momentan hören möchte. Pasquale hätte mir für dieses Verhalten bestimmt eine verpasst, wenn er es mitbekommen hätte. Meine Augen öffnen sich abrupt. Das ist die Lösung – er ist die Lösung. Ich kann sie jetzt logischerweise nicht allein da versauern lassen, also kann ich ihr stattdessen jemanden vorbeischicken, mit dem sie vielleicht sogar gerne sprechen würde.

Ich verlasse unsere Wohnung und klopfe an seine Haustür.

„Nacer", stellt er fest, während er aufmacht. Er lässt seinen Blick über mich schweifen, dann öffnet er die Tür weiter und bedeutet mir, einzutreten. Ich schüttle allerdings nur den Kopf und streiche meine Haare aus dem Gesicht.

„Hast du kurz Zeit? Ich brauche deine Hilfe."

Seine Augenbrauen wandern in die Höhe, aber er äußert sich nicht dazu, sondern nickt nur knapp.

„Wie sind die Befragungen heute Morgen gewesen?", will er vermeintlich neugierig wissen. Ich bin mir verdammt sicher, dass er schon weiß, wie es gewesen ist.

„Die Presse wird uns zerstückeln", bringe ich also statt einer Antwort hervor, worauf er nur mit den Schultern zuckt.

„Sie finden immer etwas. Es überrascht mich nicht, dass das alles kein Versehen gewesen ist."

Ich runzle die Stirn.

„Wieso meinst du? Das würde ja bedeuten, dass man dir hätte Schaden zufügen wollen. Ich kann mir nicht vorstellen, wer tatsächlich genug gewagt wäre, so etwas zu tun. Vor allem nicht von denen, die genug qualifiziert waren, um es anzustellen."

Pasquale zuckt mit den Schultern, während er seine Wohnung abschließt und zu mir rüberkommt. Ich schmunzle, als ich sehe, dass er nur Socken und nicht einmal Hausschuhe anhat. Ich liebe es, wie sehr dieser Kerl das Wohl von anderen Leuten über sein eigenes stellt.

„Ja, vielleicht. Aber wenn so etwas aus Versehen geschehen würde, müsste das heißen, dass ein massiver technischer Defekt übersehen wurde. Das wäre fatal gewesen. Da ist es mir doch lieber, das alles als keinen Unfall abstempeln zu können, verstehst du?"

Ich nicke. Da hat er schon recht, aber es ändert nichts an der Tatsache, dass der Rest der Saison durch diesen Vorfall nur noch viel brutaler und angespannter werden wird.

„Wobei brauchst du überhaupt meine Hilfe?", will Pasquale wissen, als wir in unserer Küche stehen, die bis auf Sicilys antike Kaffeemaschine ziemlich modern eingerichtet ist.

„Das Familienessen ist nicht unbedingt ideal verlaufen", gestehe ich, während ich auf Sicilys Zimmertüre deute und mein Gesicht verziehe. Pasquale wirft mir einen ‚Was habe ich dir denn gesagt?'-Blick zu, auf welchen ich nur mit den Schultern zucken kann. Natürlich ist mir bewusst, dass ich einen Fehler gemacht habe, indem ich nicht auf ihn gehört habe, aber ich mache ihn auch nicht rückgängig, indem ich ihm zustimme und gestehe, dass ich ein Idiot bin.

„Wieso hast du das nicht gleich gesagt?", fragt er und macht sich auf, um an ihre Tür klopfen zu gehen.

„Ich bin in meinem Zimmer, falls sie etwas braucht", entgegne ich aus dem Kontext gerissen und mache mich aus dem Staub, bevor ich noch einmal sehe, dass sie indirekt wegen meinen Entscheidungen geweint hat und sich ein schlechtes Gewissen in mir breit macht, noch ehe ich verhindern kann, Sympathie ihr gegenüber zu empfinden. Nachdem ich gesehen habe, wie sehr Luciano von den Eltern der beiden unterstützt wird, habe ich immer geglaubt, dass die vier die glücklichste Familie sein müssen, welche dieser Planet jemals gesehen hat. Aber anscheinend war das nicht für das vierte Familienmitglied gedacht...

Was halten wir von Nacer?

Mögt ihr Pasquale?

Tut mir leid für das verspätete Kapitel, nächstes Wochenende versuche ich, pünktlicher zu updaten 🥰

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