Jeder Mensch hat etwas tief in sich verborgen, was Urinstikte genannt wird - etwas was bei Gefahr deinen Arsch retten sollte. Fight or flight. Entweder verwendet der Körper das produzierte Adrenalin für den Kampf oder für die Flucht. Meiner persönlichen Meinung würde ich immer fliehen. Nennt mich feige, aber meine kurze Vergangenheit hat mir bewiesen, dass ich in jeglichen Kampf haushoch unterlegen bin, vor allem dann wenn ich nicht auf meine Fähigkeiten zugreifen kann. Rein logisch gesehen war es ja auch verständlich - denn was für ein Übermensch müsste ich schon sein, um Arcanis, die wahrscheinlich schon 100 mal so viel trainiert und Erfahrung haben wie ich, besiegen zu können? Das ist überhaupt nicht möglich. Nicht nach dem was sie mir ekliges gespritzt haben. Ich spüre es. Jedes Mal wenn diese zähflüssige Brühe in meinem Körper abgebaut ist, kann ich wieder das tropfende Wasser vor der Tür spüren und wie das Feuer durch meine Adern rinnt, aber je öfter sie es mir spritzen, desto länger braucht mein Körper sich von dieser Lethargie zu befreien. Es laugt mich so sehr aus. Es ist, als hätte jemand einen Teil von mir rausgerissen... Das Gefühl musste Meister Ramsley meinen, als ich nichts von meinen Flammen oder dem Eis wissen wollte, doch jetzt bereue ich es zutiefst. Vielleicht - nur vielleicht - hätte ich mich mit meinen Fähigkeiten hier rausbringen können, aber je länger ich hier unten festsitze desto weniger glaube ich daran. Wirklich. Langsam glaube ich, ich werde verrückt oder habe zu viel Zeit mit meinen eigenen Gedanken verbracht!
Eine Flucht war also sicher nicht die schlauste Idee.
Das namenlose Mädchen, dass mir mein bisschen Brot und Wasser brachte und mich fütterte oder auch mal wieder mein Blut weg wischen mussten, war das einzig nette Gesicht das ich zu sehen bekam. Ich sah es in ihren Augen jedes Mal wenn sie kurz zu mir blickt, bevor ihre Augen wieder den Boden fixierten. Es war fast als könnte ich ihre mitfühlenden Gedanken hören, ihre Trauer und Sorge aber auch den Willen mir zu helfen spüren, gleichzeitig aber auch die Angst vor den Konsequenzen die ihr drohten. Wie gesagt: ich werde verrückt...
Und wenn es nicht gerade meine geistige Verfassung war, die ich in Frage stellte, dann würde meine potentielle Flucht wohl an den Wachen scheitern oder an meiner körperlichen Verfassung. Wenn ich das richtig mitbekommen habe stehen alleine vor meiner Tür vier Wachmänner und wenn sie so wie Edwards Schlägertrupp waren, waren sie breiter als Türsteher. Nicht mal mit besten Gewissen könnte ich ihnen entkommen, dafür war ich zu schwach. Meine Beine konnte ich nicht mehr spüren, nur noch, das ständige Schneiden der Fesseln in mein Fleisch und das warme Blut was meine steifen Glieder erwärmte runter rinnt. Glaubt mir, ich habe jede erdenkliche Fluchtmethode in meinem Kopf durchgespielt, aber alle scheiterten an dem einen oder anderen Punkt. Also wenn ich hier raus wollte blieb mir nur eines: Der Kampf. Und ja, ich weiß. Ich habe gerade lang und breit erklärt, dass ich keinerlei Chancen hätte und wahrscheinlich sofort mein Todesurteil unterschreiben würde, aber ja. Die Hoffnung gerettet zu werden hatte ich irgend zwischen der Bewusstlosigkeit und den Schmerzen verloren, also gab es nur mich. Ich war meine einzige Chance und mir kam da so eine hirnverbrannte Idee. Sie ist aber besser als die Option hier zubleiben und weiter die Schikanen über mich ergehen zu lassen.
Das was sie mir hier in dieser Gefängniszelle antaten, war nicht anders als mit Folter zu beschreiben.
Während sie mich am Anfang nur die ganze Zeit wach hielten und ich so nur total übermüdet war und mein Essen rationiert wurde, waren wir jetzt an einem ganz anderen Punkt. Jedes Mal wenn ich außen nur Schritte hörte, schreckte ich schon zusammen. Langsam kannte ich die Schrittmuster die über das hallen zu mir in die Zelle drangen. Dieses Gefühl konnte ich nicht mal beschreiben, dass mich jedes Mal erfasste, wenn dann auch noch die Tür knarzte und ich die richtige Person erriet.
Mein Herz setzt jedes Mal aus und einen Moment später fängt es in meiner Brust an zu rasen, dass ich beinahe schon denke, es würde aus meiner Brust springen und wegrennen. Es war nicht nur Angst oder Panik, es war so viel schlimmer...
Deshalb... eine Flucht schien gerade das kleinere Übel. Zusammengefasst ist es eine lebensgefährliche, riskante und wohlmöglich mehr dumme als kluge Idee. Aber die einzige die ich habe. Durch meine komische geistige Verfassung probierte ich mit dem namenlosen Mädchen zu kommunizieren. Jedes Mal wenn sie zu mir kam, schaute ich in ihre Augen und versuchte ihr via Telepathie - ich weiß, diese Fähigkeit gibt es nicht - einzutrichtern, mir etwas zu holen - am besten keine Büroklammer - sodass ich mich befreien könnte. Das wäre der einfache Teil des Plans. Schwieriger wird es an den Wachen vorbei zu kommen, aber keine Sorge, daran habe ich schon gedacht. Das letzte Mal habe ich das Serum, was scheinbare meine Kräfte unterdrückt vor einigen Stunden bekommen und nach all der Zeit kenne ich langsam die Anzeichen, wann ich wieder „vollständiger" bin. Lacht nicht, aber meine Zehen fangen dann immer ein wenig zu kribbeln an, bevor ich meine Elemente wieder spüren kann. Wenn ich also alle Anzeichen unterdrücken kann und somit die nächste Dosis soweit hinaus zögern könnte, dass ich ein realistisches Zeitfenster zur Flucht habe, könnte das Ganze gelingen. Irgendwie krieg ich das schon hin, wie genau weiß ich noch nicht, aber ich würde sagen da muss die Improvisation herhalten. Ich kann ja schlecht planen, wenn ich noch nie etwas anderes als diesen Mini-Raum gesehen habe. Jetzt durfte nur nichts schief gehen und ich könnte fliehen.
Ich musste nicht mal mehr so lange warten. Ich hielt meinen Kopf gesenkt, die Augen geschlossen und war froh über die kurze Pause die man mir gönnte. Ich würde jeden Funken Kraft benötigen, den ich kriege. Es kribbelte wieder in meinen Zehen und ich versuchte die Vorfreude zu unterdrücken, auch wenn mein Herz vor Aufregung raste. Und mit jedem Moment der verstrich konnte ich das tropfende Wasser mehr spüren und langsam war ich wieder mehr wie ich. Wenn man überlegt, dass ich vor nicht mal einem Jahr noch gar nichts von all dem hier wusste, war es jetzt schon ein riesiger Teil von mir und ich könnte ohne ihn nicht mehr leben. Wie muss es wohl für Tante Beatrice gewesen sein ihre Kräfte nie einzusetzen? Darüber kann ich mir später Gedanken machen... Auf die Minute genau - keine Ahnung ob das stimmt, ich hab ja keine Uhr - öffnete sich die Tür und das Mädchen trat ein. Alles war wie immer. Ihre hochgezogenen Schultern, die tribbelden Schritte, all das und meine Hoffnung schwand ein wenig. Meine „Telepathie" hat nichts gebracht..., dachte ich verzweifelt und hätte auf der Stelle losheulen können, weil ich meine Freiheit schon dahin schwinden sah. Aber dann schob sie mir einen Schlüssel in die Hand für meine Fesseln während sie mich fütterte und ich riss erschrocken die Augen auf. Sie zeigte mir unauffällig eine 5 mit ihren Fingern und nachdem ich sie eindringlicher musterte laß ich ihr ab, dass das die Zeit wäre, die ich hätte, um aus diesen Raum zu kommen. Ein riesiger Felsbrocken stürzte von meinem Herzen und vor lauter Erleichterung stellte ich ihr eine Frage, ohne sie zurücknehmen zu können. „Komm mit mir." Keines dieser Worte sprach ich laut aus, sondern ich schickte sie ihr wieder auf unsere gedankliche Verbindung. Ihre Antwort waren aufgerissene Augen und dann ein nicht ganz so überzeugtes Kopfschütteln. In dem Moment hatte ich Angst. Was wenn sie mich verpetzte? Was wenn das alles hier auch nur zu Edwards perfiden Plan gehörte mich zu brechen? Was dann?
Noch ehe ich in Panik verfallen konnte übersendete sie mir wieder etwas. „Ich kann nicht. So gern ich auch will. Es ist mir nicht möglich." Sie ließ den Kopf hängen und nur einen Moment später sah ich das Bild eines bleichen Jungen vor mir, in einem weißen sterilen Zimmer. Mehr musste nicht gesagt werden. Sie wollte ihn nicht verlassen. Also war ich beruhigter und fing gleich nachdem sie mir mit ihrem zaghaften Lächeln viel Glück wünschte, an mich zu befreien.
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Die Chroniken der Arcani - Das Überleben
FantasyGerade hat sich Philippa an ihr neues Leben gewöhnt und Anschluss in der neuen Welt gefunden, da erschüttert sie ein gelüftetes Geheimnis nach dem anderen und wieder dreht sich Pippas Welt um 180°. Nur dieses Mal war es anders. Sie bezweifelte alle...