Kapitel 1 - Jaime

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Sein Blick sagte alles. Ich bleibe hier. Herr Frey lief kopfschüttelnd auf mich zu.
„Was ist denn jetzt?", platzte es wütend aus mir heraus. Mir selbst bewusst, dass er nichts dafür kann, schob ich noch ein: „Konnten Sie nichts machen? Ist da nichts zu machen?" hinterher. Seine Augenbrauen schoben sich vorsichtig nach oben zusammen. Mitleid war das, was ich in seinen Augen erkannte.
Herr Frey ist mein Lieblingslehrer, ich weiß, dass es ihm wehtut mich hier zurückzulassen, aber ihn trifft keine Schuld. Er ist der Einzige der nicht wegschaut, der Einzige der etwas unternahm, wenn Theresa mal wieder ihr Selbstwertgefühl an mir zu steigern versuchte.
Mein Vater ist der, der gesagt hatte mein Reisepass wäre schon verlängert. Ich hätte ihm nicht vertrauen dürfen, hätte selbst nachschauen müssen. Er stiftet nur Unruhe in meinem Leben, nichts als Unruhe.
Meine Hände wurden ganz feucht und ich schnappte panisch nach Luft. Ich fühlte eine Hand auf meinem Rücken.
„Ist alles okay?", hörte ich immer wieder. Als wäre meine Kehle zugeschnürt, war ich zu keinem Wort in der Lage.

Mein Vater wird so sauer sein, er wird sauer auf mich sein, weil ich wegen seinem Fehler nicht zuhause erscheine. Es wird meine Schuld sein. Ich werde Schuld sein und ich werde bestraft werden.
„Ruf deine Mutter an. So schnell wie möglich, dann kommst du hier auch bald wieder weg", murmelte mir Herr Frey zu, wissentlich, dass mein Vater nicht der richtige Ansprechpartner ist. Als ich mich langsam aber bewusst aufrichtete und Herr Frey's Hand von meinem zuvor gekrümmten Rücken rutschte, sah ich verschwommen durch meine Tränen die Umrisse meiner Mitschüler. Sie scheinen es jetzt wohl auch alle mitbekommen zu haben. Ich sehe nun etwas deutlicher Theresa, wie sie Antoine kichernd etwas ins Ohr flüstert. Sie sehen so unfassbar vertraut aus, hätte die Abifahrt nicht meine Chance sein sollen?
„Schnell!", schrie Herr Frey. Habe ich irgendwas verpasst? Ich sah einige meiner Klassenkameraden nach ihrem abgelegten Handgepäck greifen. Was ist los? Alle anderen scheinen die Situation durchblickt zu haben, gab es eine Durchsage? Innerhalb weniger Sekunden war meine Klasse, gemeinsam mit der Parallelklasse am Boarding angelangt. „Herr Frey? Herr Frey!", entrinn es mir panisch, während ich wie angewurzelt stehen blieb. Ich hörte ihn sagen, ich solle Zuhause anrufen, der Rest wurde durch die Lautstärke am Flughafen erstickt. Ich rannte zum Fenster, von wo man die Flugzeuge beim abheben beobachten konnte. Ich erkannte niemanden im Flugzeug, stellte mir aber trotzdem vor, dass mich meine Mitschüler ansahen und sich über meine Situation amüsierten. Das Flugzeug hebte ab.

„Nein..", murmelte ich von Tränen erstickt. Hektisch wühlte ich in meiner Handtasche auf der Suche nach meinem Handy, wofür ich 3 Monatsgehalte aus der Bücherei investiert hatte. Akku alle. Mit zittrigen Beinen schleppte ich mich zu einen der vielen freien Sitze am Fenster. Neben meinem Sitz befand sich eine Steckdose in welches ich mein Ladekabel steckte. Ungeduldig versuchte ich mein Handy am Ladekabel anzuschließen, doch die Spitze brach ab. „Scheiße!", entfuhr es mir.
„Du kriegst dich ja garnicht mehr ein, dein Oberteil ist schon durchnässt.", merkte ein nun vor mir stehender Polizist grinsend an. Beschämt sah ich ihn an, bevor ich an mir herunterschaute. Einen roten BH unter einem Weißen Top zu tragen, gehört nicht zu einer meiner besten Entscheidungen. Mein Top war durch meine Tränen etwas feucht geworden, wodurch das rot durchschien. Der daraufhin entstehende Augenkontakt war sehr unangenehm, zudem ich mich mit meinen von Tränen überströmten Gesicht nicht besonders attraktiv fühlte. Nicht als wäre es bei dem Polizisten besonders wichtig, er schien mir um einiges älter als ich zu sein. Er trug seine Arbeitskleidung und hatte einen 3-Tage Bart. Sein Bauch war etwas mehr beschmückt, sein Mund und seine hellbraunen Augen sahen mich freundlich an. Ruckartig stand ich auf und schnappte nach meiner Tasche um die Flucht zu ergreifen, bevor ich von einem Geräusch aufgehalten wurde. Mein Handy lag zuvor wohl auf meinem Schoß. Nicht mehr überrascht über mein Pech griff ich nach meinem von neuen Kratzern übersäten Handy. „Ist es kaputt?", fragte der Polizist vorsichtig.
„Keine Ahnung... mein Handy ist nicht geladen und mein Ladekabel ist kaputt und... und also ich muss meine Eltern anrufen sonst komme ich hier garnicht weg. Ich muss dann hier bleiben, wo soll ich denn bleiben?"
„Kennst du die Nummer deiner Eltern? Du kannst mein Handy benutzen."
Hat sie nicht vor kurzem ihre Nummer gewechselt? – Mist. „Nein, ich kann sie nicht auswendig."
„Hm... wie alt bist du?"
„19. Also in ein paar Wochen 19."
„Okay hör zu, wenn du nicht weißt wohin, kannst du nach meiner Schicht zu mir um dein Handy aufzuladen. Dann kannst du deine Mutter anrufen."
„Wann haben Sie Feierabend?"
„Um 18 Uhr, ich hole dich dann unten bei Subway ab. Ich muss dann wieder", sagte er während er seinen Kopf zur Seite kippte, in Richtung seiner Kollegen und dort hinlief. Ich sagte nichts mehr, war aber unendlich erleichtert wenigstens einen Plan zu haben.
Mein Handy und mein kaputtes Ladekabel ordentlich in meiner Handtasche verstaut lief ich zu den Rolltreppen nach unten. Auf dem Weg sah ich eine Uhr - 16:45 Uhr, noch etwas über eine Stunde.
In der unteren Etage angekommen sprang mir das grüne Licht, welches zu Subway gehörte, sofort ins Auge. Ich lief rüber und bestellte mir dort einen Vollkornbrot Sub und eine Cola light. Vollkornbrot soll weniger Kalorien haben als Weizenbrot dachte ich, während ich in meinen Sub biss und mich daran erinnerte, dass ich Vollkornbrot nicht wirklich mag. Nachdem ich fertig gegessen hatte, kam mir das erste mal der Gedanke: Ich kann doch nicht zu einem fremden Mann Nachhause! Was mache ich denn jetzt? Nervös zupfte ich an den Fransen meiner Hotpans. Nachdem ich mein Tablett abgab, begab ich mich kraftlos zu den Toiletten, wofür ich einen gefühlten Kilometer lief. Der Miami International Airport war ein ziemlich großer Flughafen im Vergleich zu dem in Deutschland.

Ich kann doch nicht in sein Auto? Ich kenne ihn überhaupt nicht, wer weiß was er vor hat? Die Erkenntnis war niederschmetternd, aber ich konnte nicht hin. Ich gehe einfach nicht hin. Ich sah mich im Spiegel an und erschrak. Meine Augen sind knallrot, meine Mascara ist bis zu meinem Kinn verschmiert, meine Tränen haben meinen Concealer weggewischt, sodass all meine Sommersprossen wieder durchscheinen. Einfach nur schrecklich dachte ich, als ich dann auch noch sah wie meine orangenen Locken sich elektrisiert hatten. Immerhin schien mein in Tränen getränktes Top nun getrocknet zu sein. Ich wusch mir mein Gesicht mit ganz viel Seife, in Hoffnung, dass all meine Mascara abgeht. Anschließend steckte ich meine Haare in einen unordentlichen Dutt. Ich ging raus und setzte mich direkt auf einen Platz vor den Toiletten neben ein blondes Mädchen, was telefonierte. Ihre Haare fielen wie wunderschöne Seide auf ihre Brust und ihre vollen Lippen formten ein Lachen. „Jaa Baby, ich fliege in ein paar Stunden erst los. Ich komme sofort vorbei, wenn ich zurück bin.", höre ich sie glücklich sagen. Das ist meine Chance, dachte ich. „Hey.", sage ich. Sie schaute etwas perplex, aber ich fuhr fort: „Mein Name ist Jaime, hast du vielleicht ein IPhone Ladekabel dabei? Ich bräuchte es nur ganz kurz, es wäre ziemlich wichtig".
„Nee, ich lasse mich nicht von Obdachlosen beklauen!", antwortete sie ignorant, mit einem schmunzeln im Gesicht. Sie macht sich über mich lustig, sie macht sich tatsächlich über mich lustig. Geschockt erhob ich mich und ging davon. Paranoid drehte ich mich um, um nachzuschauen ob jemand diese unangenehme Situation beobachtet hatte. „Total blamiert hast du dich", murmelte ich vor mich hin, als ich sah wie eine Gruppe von Jungs mir lachend hinterhersah.

Mit zügigen Schritten begab ich mich zielgerichtet zum Ausgang des Flughafens und schaute erneut nach hinten, um sicher zu gehen das die Blicke der Jungs von mir abgelassen hatten. Als ich mich wieder nach vorne drehte, spürte ich nur noch ein dumpfes Gefühl am Kopf. Mit schmerzverzerrtem Blick sah ich auf und sah den Polizisten von vorhin.
„Ich darf früher gehen", teilte er mir mit „Alles gut bei dir? Du bist blass wie Mamor". „Ich habe mich nur abgeschminkt.", erwiderte ich stumpf, immernoch meine Hand an meine pochende Stirn haltend. „Komm jetzt stell dich nicht so an. Wo hast du deinen Koffer abgelassen, dann holen wir den vorher noch schnell. Meine Frau wartet schon auf uns, sie hat extra mehr Essen gemacht.", sagte er, wobei seine Augen zu strahlen begannen als er  seine Frau erwähnte. Das er eine Frau hat, die er so zu lieben scheint, beruhigte mich. Hat er Kinder? Wenn er Kinder hat ist die Wahrscheinlichkeit mit Sicherheit geringer, dass ich gleich in das Auto eines Serienmörders steige. Vermutlich entspricht die These die ich soeben aufstellte nicht der Wahrheit, es würde aber mir trotzdem meine Angst nehmen, weshalb sofort aus mir herausplatzte: „Haben Sie Kinder?". Verwundert über die Frage hielt er kurz inne. „Ja, meine Frau und ich haben einen Sohn." Er hat gewartet, hat er gelogen? Er schien begriffen zu haben, dass ich daran zweifelte, denn aufeinmal kramte er sein Portmonee aus seiner Hosentasche, klappte es auf und zeigte mir ein Bild eines Jungen. „Schau das ist er. Matts.", er grinste während er seinen Namen sagte. Matts – wiederholte ich in meinem Kopf. Auf dem Bild war ein Junge am Strand zu erkennen, vermutlich 15. Er hatte dunkles Haar mit grünen Augen und Haut die bronzefarben zu sein schien. Neben ihm sieht man den Polizisten, welcher den Arm und seinen Sohn legt und ein paar Jahre jünger zu sein schien. Wie alt das Foto wohl ist?
„Meinen Koffer hatte ich oben irgendwo abgegeben."
„Gut, dann lass uns schnell deinen Koffer suchen. Welche Farbe hat er?"

Denkt ihr, es ist die Richtige Entscheidung, mit dem Polizisten mit zugehen oder ist sie zu naiv?

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