(Sherlocks POV)
Ich weiß nicht, was ich tun soll. In meinem Kopf ist so viel und gleichzeitig nichts. John ist weg. Und ich bin allein. Sieben Tage ist das her. Eine Woche. 168 Stunden. Ohne John, dafür aber mit der ständigen Angst, ihn nie wieder zu sehen, ihn vielleicht für immer verloren zu haben. Aber das kann nicht sein, dass darf nicht sein. Ich will nicht denken, dass er tot ist, und tue es doch. Zum ersten Mal in meinem Leben spüre ich Angst. Richtige Angst, keine Aufregung, keine Nervosität, keine Anspannung, nur kalte, nagende Angst, die mich um den Verstand und um den Schlaf bringt.
John zur Liebe habe ich versucht, regelmäßig zu schlafen. Und John zur Liebe habe ich es auch ganz schnell wieder gelassen. Schlafend nütze ich ihm gar nichts. Wach dagegen schon.Es ist meine Schuld. Jeder versucht es mir auszureden, aber ich weiß, dass es so ist. Wenn John etwas passiert, dann meinetwegen. Nicht, weil er sich das ausgesucht hat, nein, weil ich ihn in etwas verwickelt habe, womit er womöglich gar nichts zu tun haben wollte und womit er jetzt umso mehr zu tun hat. Ich will nicht daran denken, was sie mit ihm anstellen werden, was sie ihm schon angetan haben, und kann plötzlich nichts anderes mehr.
Sie waren hinter ihm her. Sie haben ihn vielleicht sogar umgebracht. Und das meinetwegen.„Sherlock?"
Kurz bilde ich mir ein, es wäre Johns Stimme gewesen. Aber als ich den Blick hebe, ist es nur Lestrade, der im Türrahmen lehnt, an derselben Stelle, an der John so oft gestanden hat. Ich schlucke, kämpfe gegen die Tränen an, die diese Erinnerung unweigerlich in meine Augen treibt, und bilde mir ein, sie auch in Lestrades Augen zu sehen. Dann entdecke ich den Briefumschlag in seinen Händen. Er sieht aus, als wäre er einmal weiß gewesen. Schmutziges, weiches Braun. Und irgendwo dazwischen verlaufenes Blau. Ich kenne die Schrift. Ich kenne sie sogar sehr gut. Zu gut.
„Sherlock", sagt Lestrade noch einmal. Er schluckt. Seine Hände zittern, umklammern den Umschlag fester.
„Was wollen Sie?", frage ich, eine Mischung aus genervt und gleichgültig. „Mir einen Ihrer Liebesbriefe an John vorlesen? Danke, aber von diesen hatte ich in den vergangenen Wochen mindestens zehn in meinem Briefkasten."
Ich hasse mich dafür. In Lestrades Augen blitzt für einen Moment ein Gefühl auf, so klein, dass ich es mir auch einbilden kann. Er sieht verletzt aus, traurig, fast schon bedauernd. Beinahe tut es mir leid. Ich weiß nicht, was mit mir los ist. Seit John verschwunden ist, kann ich nicht mehr sprechen. Zumindest nicht, ohne nicht irgendwann etwas zu sagen, wofür er sich normalerweise sofort entschuldigt hätte.
Ich bin gereizt, das weiß ich, wütend, unfair, verletzend. Das ist nicht ungewöhnlich, aber plötzlich ist da niemand mehr, der es mit einem Lächeln entschuldigt, mich dabei mahnend ansieht und später mit tadelnden Blicken straft. Ich weiß, dass ich noch unausstehlicher bin als sonst. Aber zum ersten Mal fühle ich Angst. Und davor fürchte ich mich.„Es ist an Sie adressiert."
Das ist alles, was er sagt. Mehr nicht. Nur diese fünf Worte, die den Unterschied machen. Ich erstarre, stehe auf, mache einen Schritt in seine Richtung, bleibe wieder stehen, trete zurück. Alles tut mir weh, jeder Atemzug, jede Bewegung, jeder Herzschlag. In meiner Brust brennt und zieht es.
„Woher ..." Meine Stimme versagt. Lestrade tritt auf mich zu, reicht mir den Umschlag, wortlos und mit einem Blick, der mir eine lähmende Kälte durch die Glieder jagt. Es ist ein stilles Tut mir leid, was in seinen Augen liegt. Mir ist schlecht und meine Hände zittern, als ich den Brief an mich nehme.
„Ich habe ihn eben erst bekommen. Öffnen Sie ihn."
Ich will es, aber ich kann nicht. Ich sehe sein Gesicht vor mir, sein schiefes Lächeln, seine strahlenden, blauen Augen, die manchmal mehr lachen, als sein Mund es tut. Vielleicht werden sie das nie wieder tun. Vielleicht wird er mich nie wieder so ansehen. Ich habe es ihm nie gesagt. Er bloß immer mir.
Sie sind mein Freund, Sherlock. Mein bester Freund.Ich wäre gerne mehr gewesen als das. Mehr als nur ein bester Freund. Ich wäre gerne das gewesen, was Lestrade für John ist. Jemand, der ihn bei sich wissen kann, immer und überall. Jemand, der sich sein Bett und seine Nächte mit ihm teilt, der abends mit ihm einschläft und morgens mit ihm aufwacht. Jemand, der seine Nähe spüren und ihn und diese verfluchten Lippen küssen darf. Jemand, der nicht nur ein Freund ist. Jemand, der sein Alles und seine Welt ist. Und der die drei Worte hören darf, die ich niemals hören werde. Nicht von John und auch von niemanden sonst. Ich liebe dich. Ich wüsste gerne, wie John sie sagt, wie seine Stimme dabei klingt und wie er schaut. Ich hätte sie gerne gehört. Und ich hätte sie auch gerne für mich gehabt.
Ich frage mich, wer es zuerst ausgesprochen hat. John oder Lestrade. Es sollte mir egal sein, aber das ist es nicht. John und ich haben viel geredet. Vermutlich sogar mehr, als Lestrade und er es jemals getan haben. So viele Worte, die zwischen uns gelegen haben. Nur diese drei, die den Unterschied gemacht hätten. Die habe ich nie gehört und nie gesagt.„Möchten Sie ihn nicht öffnen?" Ich zucke zusammen, bemerke, dass Lestrade noch immer neben mir steht und ich ihn längst vergessen hatte. „Es ist Johns Schrift. Es könnte wichtig sein."
Ich weiß, dass es Johns Schrift ist. Natürlich weiß ich das. Und sie macht mir Angst. Die Art, wie er meinen Namen und unsere Adresse geschrieben hat. Krakelig und hastig. John hat eine schöne, ordentliche Schrift. Diese hier ist es nicht. Und sie verrät mir das, was ich nicht wahrhaben will. Dass John vielleicht nicht mehr lebt, dass er es eilig und Angst hatte. Und dass sie ihm etwas angetan haben.
„Ich ..."Das ist der Moment, in dem ich mich nicht mehr halten kann. Meine Sicht verschwimmt, meine Knie geben unter mir nach, mein Herz verkrampft sich und mein Brustkorb wird auf einmal ganz klein und eng. Ich krümme mich, komme nicht gegen die Schmerzen an, gegen dieses nagende, kalte Gefühl in meinem Inneren. Ich kann nicht atmen, mich nicht bewegen, nichts sehen. Die Tränen auf meinen Wangen sind heiß, meine Finger taub und eiskalt. Ich umklammere den Umschlag, halte mich daran fest, presse ihn mir an die Brust, versuche, nicht zu weinen, weine, hasse mich, wünsche mir, ich wäre es gewesen, der in diesen Wagen gezerrt wurde. Hätte ich es ihm doch bloß gesagt. Hätte ich doch nur dazu gestanden. Wieso habe ich es verheimlicht? Wieso habe ich es geleugnet? Wieso habe ich mich dafür gehasst, dass es so ist? Ich hätte es ihm so gern gesagt.
Mir entfährt ein erstes, verzweifeltes Schluchzen. Dass ich weine, ist mir fremd, ebenso die Art, wie ich es tue. Es hat etwas Unmenschliches, Verletzliches, wie der Laut eines tödlich verwundeten Tieres. Nicht mehr als ein leises, atemloses Wimmern, was mir seltsam fremd ist. Jemand legt die Arme um mich, zieht mich an sich, hält mich fest und an seine Brust gepresst. Ich rieche Kaffee und Minze, einen Geruch, den ich in letzter Zeit so oft an John bemerkt habe. Lestrade streicht mir beruhigend über den Rücken, wiegt mich langsam hin und her, wie ein kleines Kind. Ich will ihn dafür hassen, dass er es war, der mir das genommen hat, was ich so gerne gehabt und noch viel lieber gewesen wäre, aber ich kann es nicht. Ich wehre mich nicht, klammere mich an ihm fest, weine, leise und unterdrückt.
John darf nicht tot sein. Er muss am Leben sein. Ich kann ihn noch spüren, in meinem Herzen, in meinem Verstand, in meinem Kopf. Er ist noch da. Irgendwo.„Es tut mir leid, Sherlock", flüstert Lestrade. Immerund immer wieder. „Es tut mir leid."
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Hallo und guten Abend, ihr Lieben!
Ich hoffe, euch hat das Kapitel gefallen - auch wenn es nur einen unglücklichen Sherlock und einen überforderten Greg beinhaltet hat :).
Was denkt ihr? Ist John noch am Leben?
Ich hoffe, ihr könnt gut in den Donnerstag und ins Fast-Wochenende starten! Habt einen schönen Abend <3.
Wir lesen uns (ganz bald!),
Eure Leli

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When they kissed
Fanfic⚠️ enthält sexuelle Inhalte ⚠️ Sherlock war nie verliebt. Es gab weder Frauen noch Männer, bloß seine Experimente und die Einsamkeit. Bis er auf John trifft. Einen Mann, der ihn und seine Fassade durchschaut und ihm zur Seite steht. Zum ersten Mal l...