Lost & Found

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(Sherlocks POV)

Nur für den Bruchteil einer Sekunde ist es ganz still. Ich höre meinen eigenen Atem und das Blut in meinen Ohren, sehe die seltsamen Schatten, die sich kaum von dem tiefen Schwarz der Nacht abheben, spüre meinen Herzschlag, schnell und dumpf. Ich weiß, dass er dort irgendwo ist, dass er da sein muss, kann ihn fühlen, hier und jetzt, in meiner Nähe, um mich herum, in meinem Kopf und auf meiner Haut. John ist hier.

„John!"

Ich renne schneller, so schnell, wie ich noch nie gerannt bin, stolpere über Wurzeln, falle, fange mich ab, laufe weiter, immer weiter und immer schneller, direkt auf die Schatten zu. Ich muss ihn finden. Ich muss es ihm sagen. Ihm alles sagen, bevor es zu spät ist. Bevor ich anfange, zu bereuen. Wieso habe ich nie etwas gesagt?!

„John! John, ich bin hier!"

Meine Schreie verhallen in der Nacht. Sie bleiben unerwidert. Ich höre Lestrade etwas rufen, er ist irgendwo hinter mir, aber es ist mir egal. Ich höre nicht hin, renne weiter, immer und immer weiter. Ich muss ihn finden.
„Sie haben Angst davor, sich zu verlieben", höre ich John sagen. Ich sehe ihn noch ganz genau vor mir, wie er in seinem Sessel sitzt ein Buch in seinem Schoß und eine Tasse Tee in der Hand. Er hat mich nicht ausgelacht oder mich verspottet. Seine Stimme ist ernst gewesen und sein Blick mitfühlend. Ich habe nichts erwidert. Aber ich hätte es gerne getan. Denn die Wahrheit ist, dass ich keine Angst davor habe, mich zu verlieben. Ich habe Angst davor, der Einzige zu sein, der es tut.

„Sherlock!", höre ich Lestrade hinter mir schreien. „Sind Sie verrückt geworden?! Bleiben Sie stehen, verdammt!"
„Ich bin ein hoch-funktionaler Soziopath - natürlich bin ich das, Sie Idiot!"

Natürlich bleibe ich nicht stehen. Weil es mir egal ist. Egal, was mit mir passiert, egal, ob ich hier und jetzt sterbe, egal, ob ich diese Nacht überstehe. Aber nicht egal ist mir, was mit John passiert. Wo er ist, ob er lebt, wie es ihm geht.

„Sherlock!" Lestrades Stimme kommt näher. „Sie werden Sie umbringen, wenn Sie nicht sofort stehen bleiben!"
„Sie wären nicht die ersten, die es versuchen!", schreie ich zurück.
„Aber vielleicht die Ersten, denen es auch gelingt!" Lestrade hat mich fast eingeholt. Ich kann ihn hinter mir keuchen und fluchen hören und beschleunige meine Schritte erneut. „Verdammt, Sherlock, tot nützen Sie ihm doch auch nichts!"

Ich bleibe abrupt stehen, so abrupt, dass Lestrade unsanft gegen mich prallt. Ich atme schnell, schwitze, spüre meinen rasenden Puls und das Zittern meiner Knie. Er hat Recht. Ich weiß das, aber wahrhaben will ich es nicht. Was ich will, ist John finden. Alles andere ist mir egal.
Ich drehe mich langsam zu Lestrade um. Er stützt sich an einem Baum ab, keucht, wischt sich über die nasse Stirn und fährt sich kopfschüttelnd durch das grau melierte Haar. Er hat Recht. Er hat wirklich Recht. Und ich hasse, dass es so ist.

„Er ist da draußen!" Meine Stimme bebt. Ich bin zu laut, viel zu laut, schreie fast, kann meine Stimme aber nicht kontrollieren, mich nicht beruhigen. „Er ist am Leben, und er ist in Gefahr! Ich kann es fühlen!"
„Sherlock-"
„Ich kann ihn fühlen! Ich weiß, dass er da ist, dass er irgendwo in diesem verdammten Wald ist, dass er lebt, dass sie hinter ihm her sind! Ich werde ihn finden, und ich werde ihn zurück nach Hause bringen."

Ich stehe zitternd vor ihm, einen Zeigefinger an seiner Brust, mein Gesicht direkt vor seinem. Lestrade sieht zu mir hoch und mich an, dann nickt er. Er hat schöne Augen. Klar und warm. Ob er John auch so angesehen hat?
Ich sehe, wie er den Mund öffnet, um etwas zu erwidern, aber hören tue ich nur den Schuss. Er ist unerwartet und laut und viel zu nah. Jemand schreit. Es ist ein schmerzverzerrter Laut und er hinterlässt eine betäubende Kälte in mir. John.

„John!" Meine Stimme überschlägt sich. Ich renne wieder los und direkt auf das Geräusch zu, stürme blind durch den Wald, stolpere über Wurzeln, Äste schlagen mir ins Gesicht. „Nein! Nicht ihn!"

Plötzlich prallt etwas Weiches gegen mich. Es ist schwer und kalt und reißt mich zu Boden. Ich falle, komme unsanft auf, etwas Spitzes bohrt sich in meine Schulter. Mir bleibt die Luft weg. Und dann rieche ich es. Diese ganz bestimmte Mischung aus Kräutertee und Seife, pur und sauber und ein bisschen süßlich. Dazwischen mischt sich der Geruch von Blut.

„John?", flüstere ich, traue mich kaum, die Augen zu öffnen. Und dann sehe ich sein Gesicht. Blutverschmiert und schattig.
„Sherlock", höre ich ihn hauchen. Es ist nicht mehr als mein Name, aber er lässt mich erschaudern.
„John." Ich kann nicht aufhören, seinen Namen zu sagen. „John."

Meine Arme schlingen sich um seinen Körper, ziehen ihn noch näher an mich, so nah, dass ich so viel von ihm spüre, wie ich es noch nie von ihm gespürt habe, so nah, dass mein Brustkorb sich bei jedem Atemzug gegen seinen stemmt. Ich höre Schüsse und Schreie, spüre, wie der Boden unter mir bebt, aber es ist mir egal. Ich bleibe liegen, wage es nicht, mich zu bewegen, halte John fest und vergrabe meine Nase tief in seinem Haar. Ich wünschte, wir könnten für immer so liegen bleiben. Er auf mir, das Gesicht in meiner Brust und die Finger in meiner Jacke vergraben, meine Hände auf seinem Rücken, meine Lippen auf seinem Scheitel. Aber das können wir nicht. Weil es in diesem Leben nicht nur uns Zwei, sondern auch Lestrade gibt. Und weil wir mitten im Wald liegen.
Umgeben von Männern, die uns vor wenigen Tagen noch umbringen wollten und es offenbar immer noch vorhaben.


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Guten Morgen :)!

Weil diese Woche ja noch nicht wirklich viel von mir kam, habe ich mich gestern Nacht noch an ein neues Kapitel gesetzt. Es ist nicht so lang wie die anderen, aber es gefällt euch hoffentlich trotzdem.

Wie immer bin ich auf euer Feedback und eure Meinungen gespannt!
Ich wünsche euch einen schönen Sonntag und morgen einen guten Start in die Woche.
Wir lesen uns,


Eure Leli


When they kissedWo Geschichten leben. Entdecke jetzt