Lost without you

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(Johns POV)

Die Nacht ist kalt und schwarz. Es regnet. Dicke, schwere Tropfen, die meine dünne Jacke in Sekunden durchweicht haben. Der Stoff klebt an mir wie eine zweite Haut. Mein Atem bleibt in kleinen Wolken in der Luft hängen. Ich sollte frieren, aber das tue ich nicht. Der Gedanke an Sherlock treibt mich an, lässt mich meine Schritte beschleunigen, hält mich warm. Mein Herz schlägt dumpf gegen meinen Brustkorb, erinnert mich an seine Stimme und an das Lächeln, was in jedem seiner Worte gelegen hat. Und wenn Sie mir helfen?

Es ist nicht so, dass Sherlock mich das noch nie gefragt hat. Das hat er durchaus, mehrmals sogar, aber auch wieder nicht so oft, als dass es mir das Gefühl gegeben hätte, wirklich relevant für seine Ermittlungen zu sein. In letzter Zeit kam ich mir eher lästig vor. Wie ein Reporter, der jeden seiner Schritte dokumentiert und dabei ständig im Weg steht, nie aber selbst etwas dazu beitragen kann. Das kann man ohnehin selten - zumindest dann nicht, wenn man mit Sherlock zusammenarbeitet.

Er ist gerne allein, das weiß ich. Und ich weiß auch, dass sein Verstand anders funktioniert an meiner. Sherlock würde sagen, dass ich meinen nicht einmal benutze. Vielleicht tue ich das auch nicht. In seiner Gegenwart fällt es mir zunehmend schwer, mich überhaupt auf etwas zu konzentrieren. Aber das liegt nicht daran, dass ich ihn mag, sondern schlichtweg daran, dass er so viel und schnell redet und niemals damit aufhört. Damit, dass ich mehr für ihn empfinden könnte - was sowieso nur Gregs Meinung, nicht aber meine ist - hat es jedenfalls nichts zu tun. Gar nichts.

In meinem Nacken kribbelt es. Ich spüre, wie sich die feinen Härchen auf meinen Armen aufrichten und ein Schauer über meinen Rücken jagt. Ich kenne dieses Gefühl. Ich kenne es sogar sehr gut. Es ist das Gefühl, von etwas getrieben zu sein. Wie Wild, das gejagt wird. Ich will mich umdrehen und hinter mich sehen, mich davon überzeugen, dass meine Gefühle mich täuschen und mein Verstand mich trügt, entdecke aber Sherlock am Fenster und tue es nicht. Er sieht zu mir runter, hält die Geige noch in der Hand, ein Lächeln liegt auf seinen Lippen. Ich bleibe stehen, lege den Kopf in den Nacken und schaue zu ihm hoch. Es ist ein schönes Bild.

Sherlock, der lächelnd am Fenster steht, Sherlock, der die Hand hebt, Sherlock, dessen Gesichtszüge auf einmal ganz weich und entspannt werden. Ich glaube, ich habe noch nie einen schöneren Mann gesehen.
Ich will den Gruß erwidern, hebe bereits die Hand, dann plötzlich sehe ich einen Schatten an der Hauswand, spüre eine Faust in meinen Rippen und eine Hand auf meinem Mund. Jemand packt mich, hält mich fest, drückt mir etwas Kühles in die Schläfe. Mein Sichtfeld verschmiert, das Bild reißt ab, Sherlock, Arme, Metall, Dunkelheit. Schritte direkt hinter mir, flacher Atem, ein erstickter Aufschrei, als ich mich fallen lasse, jemanden mitreiße, auf ihm lande. Ich rolle mich zur Seite, springe auf, stehe wieder, spüre einen Stoß in der Seite, kann nicht mehr atmen und auch nicht mehr denken, nur noch fühlen.

Vor meinen Augen pulsiert alles, mir bleibt die Luft weg, mein Herz schlägt panisch gegen meine schmerzenden Rippen. Der Regen läuft mir in die Augen, lässt meine Sicht verschwimmen, dennoch erkenne ich ihre Umrisse. Ich würde sie überall wiedererkennen. Es sind dieselben zwei Männer, die Sherlock und mich verfolgt haben. Zwei schlanke Schatten in schwarzen Anzügen und ohne Gesicht. Einer von ihnen trifft mich hart im Gesicht. Mir entfährt ein stummer Schrei, ich schwanke, verliere das Gleichgewicht, stürze erneut zu Boden. Ich spüre, wie der Stoff meiner Jacke von Regenwasser getränkt wird, kalt und stechend. Dann den festen Griff um meinen Arm. Ich blinzle, sehe wieder klar und direkt in den Lauf einer Waffe. Mein Herz rast, ich kann nicht atmen. Sherlock. Plötzlich ist es ganz still, nur in meinem Kopf ist es noch laut. Sherlock, denke ich. Immer und immer wieder.

Ich will mich aufrappeln, mich wehren, aber ich kann mich nicht bewegen, bin wie gelähmt von dem Anblick der zwei Gestalten. Sie beugen sich über mich, sagen etwas, aber das Rauschen in meinen Ohren übertönt ihre Stimmen. Einer von ihnen rüttelt an meiner Schulter, zerrt mich hoch und wieder auf die Beine, schüttelt mich. Sherlock.

Ich versuche, ihre Gesichter zu erkennen, aber die Dunkelheit verbirgt sie vor mir. Sie sind immer noch zwei Schatten ohne Gesicht. Ich versuche, mich daran zu erinnern, wie sie ausgesehen haben, aber die Erinnerungen daran sind verschwommen. Mein Kopf dröhnt und mein Gesicht brennt. Ich schmecke Blut und Dreck.
Wehr dich endlich, sagt die Stimme in meinem Kopf, aber meine Glieder sind taub und schwer. Alles in mir zuckt. Und trotzdem bewege ich mich nicht, stehe nur da, zitternd und benommen. Ich spüre den feuchten Atem in meinem Nacken, dann eine Stimme, nah an meinem Ohr.

„Mitkommen."

Jemand zerrt mich weiter und von unserer Wohnung weg. Unsere. Die von Sherlock und mir. Sherlock. Wo ist Sherlock?

„Verdammt, jetzt mach schon."

Der Mann hinter mir versetzt mir einen Stoß und ich taumle nach vorne. Ich habe gar nicht gemerkt, dass ich stehen geblieben bin. Ich stolpere, meinen Beinen knicken weg, jemand packt meinen Arm und zerrt mich hoch, schiebt mich unsanft weiter. Eine Autotür wird geöffnet. Es ist schwarz und groß. Plötzlich muss ich an Mycroft denken und daran, wie oft er mich mit einem solchen Wagen zu sich bestellt hat. Ich schlucke, sehe ihn vor mir, wie er neben Greg auf dem Sofa sitzt und mich aus schmalen Augen mustert. Und dann sagt er es.

„Sie lieben meinen Bruder."
Und ich höre mich darauf erwidern: „Die meiste Zeit über kann ich ihn nicht einmal ausstehen."
„Das können wir doch alle nicht", hat er geantwortet und seine Mundwinkel haben dabei gezuckt, als würde er sich an einem Lächeln versuchen wollen. Es ist ihm nicht gelungen. Dafür aber Greg.
„Hör auf, es zu leugnen, John. Das habe ich auch nicht."

Tränen schießen mir in die Augen, warm und brennend. Ich schäme mich dafür, was ich gesagt habe, aber noch viel mehr dafür, worüber ich geschwiegen habe. Ich hätte es ihm sagen sollen. Direkt nach unserem Kuss. Aber stattdessen habe ich das getan, was ich immer tue. Es geleugnet und mich verachtet.

„John!"

Ich spüre, wie der Mann hinter mir erstarrt, höre einen Schuss, stehe bereits mit einem Bein im Wagen, drehe mich um, sehe sein Gesicht. Seine blasse Haut hebt sich deutlich von dem tiefen Schwarz der Nacht ab, die seine Umrisse verschluckt und seine Augen dunkel und endlos werden lässt. Er rennt auf uns zu, barfuß und mit einer Waffe in der Hand. Er trägt nur einen Schlafanzug. Es ist meiner, doch ihm steht er mehr. Ich weiß nicht, wieso mir das gerade jetzt so deutlich auffällt, aber das tut es.

„John!"

Wieder ein Schuss. Ich weiß nicht, ob er von ihm oder von den Männern kommt. Einer von ihnen stößt mich in den Wagen, wirft die Tür hinter mir zu, springt auf den Beifahrersitz. Es knallt, dann geht die Fahrertür auf, jemand steigt ein, startet den Motor und fährt los. Ich drehe mich um, versuche, etwas zu erkennen. Einzelne Regentropfen laufen an den verspiegelten Fenstern entlang. Und zwischen ihnen erkenne ich sein Gesicht. Er kniet in einer Pfütze, die Waffe noch in der Hand, mit der anderen hält er seine Schulter. Haben sie ihn getroffen? Sherlock sieht mich an, öffnet den Mund, scheint etwas zu rufen. Ich spüre seinen Blick deutlich auf mir, wie er mich und den Wagen verfolgt und erst abreißt, als wir scharf nach links abbiegen.

Er ist weg. Und ich bin allein. Allein unter Fremden, die uns vor wenigen Tagen noch umbringen wollten.

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Huhu liebe Leserinnen und Leser,

ich hoffe, euch hat auch dieses Kapitel gefallen, obwohl es doch ein wenig anders ist als die anderen. Was denkt ihr, wohin werden sie John bringen? Was wird mit ihm passieren? Und was ist mit Sherlock?

Ich hoffe, ihr hattet bisher eine schöne Woche und wünsche euch einen ebenso schönen Abend und einen guten Start ins Wochenende :).
Wir lesen uns ganz bald,

Eure Leli

When they kissedWo Geschichten leben. Entdecke jetzt